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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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dieser Abart eines akuten, infektiösen Übels aus Verzweiflung und Empörung, quäle, glotzt mich von der Wand dem Bett gegenüber aus einem vergoldeten, eiförmigen Rahmen ein Kindergesicht an.
    Das Bild zeigt das Kind in Lebensgröße. Ein erstaunlich hässliches Kind. Sein Froschmaul, die aufgedunsenen Wangen, die schmale Stirn, hinter der latent im Anfangsstadium, im Miniaturzustand, bereits die ganze menschliche Feigheit und Niedertracht zu ahnen ist, argwöhnische, tückischblaue Fuchsaugen, perückenartig auf Erwachsenenart gescheiteltes, strähniges Haar, die rohe und eingestandenermaßen flegelhafte Selbstvergessenheit eines primitiven menschlichen Gesichts, all das fasziniert mich, lässt meinen Blick nicht los. Stundenlang liege ich im Bett und starre auf das belanglose Gesicht des fremden Kindes.
    Zu diesem Gesicht trägt das Kind ein blaues Blüschen mit weißen Knöpfen, einen heruntergeklappten Flügelkragen, und es schickt sich an, mit seinen hässlichen Patschhändchen, die etwas Flossenhaftes haben und ein wenig so aussehen wie die Hände der Menschen, die sich im Krieg freiwillig andienten, Spione zu hängen, zum Händeklatschen. Das Kind muss jemandem besonders lieb gewesen sein, da man es malen ließ; doch der Maler wusste mit dem Gesicht nichts anzufangen, manchmal ist die Kunst angesichts der Wirklichkeit ohnmächtig. Ich überlege, dass das Kind inzwischen schon erwachsen ist und dass es möglicherweise hier vor dem Hotel herumspaziert und ich ihm begegne, wenn ich hinausgehe. Ich denke daran, dass Gott mit all dem etwas im Sinn hatte, und auch daran, dass mein Schicksal in Gottes und in der Hand des aus einem solchen Kind entsprossenen Erwachsenen liegt. Mich fröstelt. Mir ist übel. Habe ich Angst? Ich glaube, ich fürchte mich.
    NEBEL
    Am Vormittag, als ich aus dem Wald kam, hat mich der Nebel eingeholt. Wie gut! Die Bäume, die entblätterten, nackten Baumgestalten, die mich eben noch als entblößte Ringer mit glatten Negerkörpern und ihren feindseligen Armen umgaben, sind plötzlich aus der Szene verschwunden, und nichts ist geblieben als die zerbrechliche, in Watte verpackte Welt, die keine Form und kein Gewicht mehr hat, in der alles, was gerade noch beinahe unerträglich ekelhaft und schmerzhaft war, seine Wirksamkeit verliert, als hätte man es in eine Lösung eingetaucht, in eine weiche Lösung, die die Kerne des Schmerzes erweicht und zum Gären bringt. Und unten die Stadt, wie eine Quarantänestation, die mit desinfizierendem Dampf überzogen wurde. Nur das Glockengeläut existiert im Nebel.
    So schritt ich im Nebel, unsichtbar und selbst nichts sehend, materiell bereits aufgegangen in einer tieferen und allgemeinen Materie, ohne Ziel, doch diese Ziellosigkeit schmerzte nicht, denn im Nebel ist jeder Weg, jede Richtung sinnlos. Ich ging, so wie sich die Erde in diesem anderen Nebel fortbewegt, ziellos und nach strengen Gesetzmäßigkeiten.
    BEI GOETHE, ZUR WINTERZEIT
    Jetzt, zur Winterzeit, denke ich manchmal, dass ich mich nach Weimar aufmachen, im Hotel »Zum Elefanten« Quartier nehmen, am Morgen dunkle Kleider anlegen und mich mit meinem Empfehlungesschreiben bei Goethe einstellen sollte. Vormittags um elf würde er mich empfangen, im blauen Gehrock, den Stern an der Brust. Mit einer Verneigung erwiese ich ihm die Ehre. Er würde sich argwöhnisch, blinzelnd meine Huldigung anhören, aber schließlich auftauen, mir Kupferstiche zeigen, sich über die literarischen Zustände meiner Heimat informieren und anerkennend die »schöne Begabung« unseres Petofi erwähnen; sich, an den weißen Kachelofen gelehnt, anhören, was ich ihm von meiner Heimat, den literarischen Zuständen, von den Kaffeehäusern und den offiziellen Gremien, über die Sätze der Literaturpreise und die Honorare für Gedichte sowie die internationalen Gemeinheiten bestimmter Damen zu erzählen wüsste. Er würde sanft darauf verweisen, dass die Umstände zwar bedauernswert sind, dass aber das Einzelschicksal unabhängig vom Kollektivschicksal sei und dass in seinen jungen Jahren auch er viele Anfeindungen zu erdulden gehabt habe, besonders von einem israelitischen Söldner der Feder namens Börne. »Und glauben Sie an die Frauen!«, würde er mit erhobenem Zeigefinger zum Abschied sagen. »Sie tragen das Schicksal in der Welt; aber dieses Schicksal ist manchmal sanft.«
    Vor dem Fenster fällt, während wir plaudern, pausenlos der Schnee in dichten Flocken und deckt alles zu, die Literatur und auch die

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