Marais-Fieber
ihn bei uns zu behalten Ich beruhigte sie. Dann wollte
ich den Kranken sehen. „Kommen Sie.“
Sie öffnete die Tür.
„Du hast Besuch, Charles, mein
Kleiner.“
Ich betrat hinter ihr einen
luxuriösen Raum mit hübschen Möbeln. Die größte Überraschung für mich war ein
Fernsehgerät. Die Alte hatte wohl meinen erstaunten Blick durchs Zimmer wandern
sehen.
„Wir sind ärmer, als es
scheinen mag, Monsieur. Meine Schwester war gezwungen, in ihrem Alter eine
Stellung anzunehmen, bei der ehemaligen Chefin ihres Sohnes. Eine nette Frau. Vielleicht
ein bißchen verrückt...“
Sie verstummte und fuhr sich
mit der Hand an den zahnlosen Mund.
„...Äh...na ja...alles, was Sie
hier sehen, der Fernseher und alles, das stammt aus der Zeit, als er noch
gearbeitet hat.“
„War er ein guter Arbeiter?“
„Ein hervorragender.“
„Sicher gut bezahlt?“
„Er machte viele Überstunden.
Oft, ja. Nachtschicht.“
„Ja, ja, natürlich.“
Du verdammter Sébastien, du!
Überstunden! Du wirst keine mehr machen. Trotzdem krampfte sich mir bei seinem
Anblick das Herz zusammen. Von seinem Ledersessel aus starrte er auf den
milchig weißen Bildschirm des Fernsehers. Ein junger Mann mit guter Figur, kaum
fünfunddreißig Jahre, aber mit den Haaren eines Greises.
„Sehen Sie, wie vernünftig er
dasitzt“, flüsterte seine arme alte Tante.
Ich holte ein Foto aus meiner
Tasche und näherte mich dem Verrückten.
„Ich möchte mit Ihnen reden,
Sébastien“, sagte ich und berührte seinen Arm.
Er sah mich stumm an.
Unvermittelt hielt ich ihm das
Foto vor die Augen.
„Jacquier“, erklärte ich.
Er grunzte. Wie ein kleines
Ferkel, ein ganz kleines Ferkel.
„Was war das für ein Name?“
fragte die Alte. Jetzt bedauerte sie es, mich reingelassen zu haben.
„Jacquier. Der Name seiner
Chefin. Oder des Ehemanns seiner Chefin.“
Sie schüttelte traurig den
Kopf:
„Das dürfen Sie nicht,
Monsieur“, sagte sie vorwurfsvoll. „Er mag diesen Namen nicht. Obwohl Madame
immer so gut zu ihm war!“
„Geisteskranke leben in ihrer
eigenen Welt... Also, ich glaube, ich geh jetzt. Er macht einen ruhigen
Eindruck...“
„Oh, das ist er, Monsieur! ...
Er ist ganz ruhig. Nicht wahr, Charles, du bist lieb, mein Kleiner, du bist
immer so lieb.“
Bei der Bemutterung drehte sie
mir den Rücken zu. Ich steckte mir die Pfeife in den Mund und riß ein
Streichholz an.
„Um Himmels willen!“ schrie die
Alte und drehte sich zu mir um. „Wissen Sie das denn nicht? Das Feuer...das
Feuer! ...“
Der Kranke bäumte sich in
seinem Sessel auf, als hätte er einen elektrischen Schock bekommen. Sein
Gesicht drückte furchtbaren Schrecken aus. Dann raufte er sich mit den verkrümmten
Fingern das weiße Haar und fing schauerlich an zu heulen.
* * *
Am selben Abend läutete ich um
neun Uhr in der Rue de Thorigny. Aber nicht die bejammernswerte Mutter von
Charles Sébastien öffnete die Tür. Ich atmete auf. Seit der Morgenvorstellung
war mir überhaupt nicht danach, irgendeinem Mitglied dieser Familie über den
Weg zu laufen. Also, nicht Madame Sébastien öffnete, sondern eins der üblichen
Dienstmädchen, die ich schon bei meinem ersten Besuch hier gesehen hatte. Ich
nannte ihr meinen Namen und fügte hinzu, Mademoiselle Odette erwarte mich, aber
wenn Madame Jacquier zu sprechen sei, würde ich ihr gern meine Aufwartung
machen. Jean Mareuil höchstpersönlich hätte sich nicht vornehmer ausdrücken
können.
„Madame ist ausgegangen“, gab
mir das Mädchen Auskunft. Wie sich das trifft! Mademoiselle jedoch sei auf
ihrem Zimmer. Und wie sich das erst trifft!
„Krank?“
„Nein, Monsieur. Wenn Monsieur
mir folgen wollen
Ich folgte ihr. Sehr hübsche
Beine. Die Strümpfe etwas zu fein für den Anlaß. Eher für den Ball der
tugendhaften Herzen.
Sie klopfte an Odettes
Zimmertür.
„Schließt sie sich jetzt ein?“
fragte ich.
„Ja, Monsieur.“
„Wird auch höchste Zeit.“
Das Mädchen prustete fast los.
Dann ging sie mit dem Mund näher an die Tür und sagte etwas. Daraufhin erschien
Odette im Türrahmen.
„Bitte kommen Sie rein.“
Sie trug einen Morgenmantel
über einem blaßgrünen Seidennachthemd. Sie wirkte
erschöpft, schien sich immer noch nicht von der Aufregung erholt zu haben.
„Setzen Sie sich. Kann ich
Ihnen etwas anbieten?“
„Nein, danke.“
Dafür setzte ich mich.
„Sie sind eine kleine
Lügnerin“, sagte ich.
Sie wurde blaß.
„Ich?“
„Wen könnte ich wohl sonst
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