Marais-Fieber
mitgenommen. Sie
freute sich wie ein Kind. Vorfreude ist die schönste Freude. Eine echte
Pariserin eben.
Wir saßen ganz vorne, gegenüber
dem roten Vorhang, durch den die Artisten in die Manege kommen. Vor dem Vorhang
standen mit gekreuzten Armen die Zirkusdiener in ihren korrekten blauen
Uniformen mit Goldlitzen.
Ich sah mir das Programmheft
an. Miss Pearl hatte demnach ihren Auftritt ungefähr in der Mitte des zweiten
Teils, direkt nach Michel Seldow, dem Zauber-Zauberer. Und noch etwas später,
nach einer Jongleurnummer, kam Mario mit einem anderen Partner noch einmal in
die Manege. Bei dieser Gelegenheit sollte ich sicher versuchen, hinter den
Kulissen die Trapezkünstlerin zu treffen. Bis dahin hatte ich nichts weiter zu
tun, als bei der Vorstellung meinen Spaß zu haben.
Es begann.
Die Scheinwerfer richteten sich
auf die Bühne mit den Orchestermusikern in ihren strahlenden Uniformen, die
gleichzeitig mit ihren Instrumenten loslegten. Die unvergleichliche Musik
schmetterte durch das Zirkuszelt. Mehrere Clowns machten den Anfang und sorgten
mit ihren einfallsreichen Späßen für Stimmung.
Bald war schon Pause. Wir
gingen hinter die Kulissen, um meinen Zauberfreund in seiner Garderobe zu
besuchen. Ein Junge vom Zirkus führte uns hin.
„Salut, altes Wildschwein“,
begrüßte mich Seldow. „Schön, daß du gekommen bist. Dann weiß wenigstens ein
Zuschauer meine Arbeit zu schätzen. Übrigens, du kannst ihn festnehmen.“
„Wen?“
„Mario.“
„Hatte ich gar nicht vor.“
„Um so besser für ihn... Na ja,
er hat mir das Geld zurückgegeben...“
„Ach!“
„Ja. Hat wohl während der
Tournee was gespart. Hoffentlich bleibt das so.“
„Sag mal, wo ist die Garderobe
von Miss Pearl?“
„Pearl und Mario. Haben eine
zusammen. Nur Gustave hat eine für sich, der andere Partner.“
„Und wo ist die Garderobe der
beiden?“
Er sagte es mir. Ich machte
einen Erkundungsgang, blieb aber in hübscher Entfernung. Dann rief uns der Gong
zurück auf unsere Plätze. Das Orchester spielte sich schon warm.
Mein Freund wurde mit herzlichem
Applaus begrüßt. Aber es war zu spüren, daß alle der folgenden Nummer
ungeduldig entgegenfieberten.
Als Miss Pearl and partner zu leiser Musik über
den roten Teppich die Manege betraten, hörte man überall ein langgezogenes
„Ah!“. Hoch unter der Zirkuskuppel schaukelten die fliegenden Trapeze.
Das Trio grüßte in alle
Richtungen. Mario und Gustave waren etwa gleich groß. Man sah ihre Muskeln
spielen. Miss Pearl trug ihr platinblondes Haar nach hinten gekämmt. Die Farbe
ihres Trikots changierte im Scheinwerferlicht. Bewunderndes Gemurmel. Ihre
Handküsse wurden von der Menge mit Beifall beantwortet. Sie war wirklich sehr
schön. Ein Rasseweib. Jacquier hatte Geschmack.
Zu den Klängen der Musik
kletterten die Akrobaten geschmeidig zur Plattform hoch, von der aus das
phantastische Luftballett seinen Anfang nahm. Die Musik war jetzt kaum noch zu
hören. Nur noch ein monotones Gejammer. Zweitausend Zuschauer starrten mit
offenem Mund oder zusammengebissenen Zähnen auf die Bewegungen der
Trapezkünstler, die durch die Luft wirbelten, wieder aufgefangen wurden,
zwischen Himmel und Erde aneinander vorbeiflogen. Das Orchester hatte aufgehört
zu spielen. Nur noch ein dumpfer Trommelwirbel. Mit einem Schlag verstummte
auch er.
Der ganze Zirkus war
aufgesprungen. Ein einziger Schreckensschrei erfüllte das Zelt. Hélène stöhnte
auf und verbarg ihr Gesicht an meiner Schulter.
Ein Zentimeter. Vielleicht noch
weniger. Aber auch weniger als ein Zentimeter bedeutet viel im Leben eines
Trapezkünstlers. Mario hatte Miss Pearl um einen Zentimeter verpaßt; jetzt lag
sie wie ein Hampelmann mit verrenkten Gliedern in der Manege. Mit
heimtückischer Geduld lauern die Matten in der Manege auf solche Augenblicke,
seitdem es Zirkus gibt. Gierig tranken sie jetzt das Blut der Deutschen.
* * *
Wie im Traum rutschte Mario das
glatte Seil hinunter, ohne sich darum zu kümmern, daß er sich die Hände aufriß.
Er warf sich buchstäblich auf den Körper der jungen Frau und umschlang ihn schluchzend.
Einige Zirkusleute, unter ihnen Gustave, stellten Mario wieder auf die Beine
und brachten ihn hinter die Kulissen. Andere stürzten mit einer Trage in die
Manege, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. Eilig brachten
sie die Unglückliche weg, aus den Augen der krankhaft neugierigen Menge. Jemand
gab etwas bekannt. Niemand verstand ihn.
Hélène
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