Marathon Mosel
Nachdem er sich im ersten Gang in westliche Richtung bewegt hatte, zeigte der Kompass, dass dieser hier nach Norden führte. Als er das Licht der starken Lampe bündelte und in die Ferne richtete, verlor sich der Strahl im Dunkeln.
Bald erreichte er eine Stelle, wo der Boden aufgeweicht war. An den Wänden blühte der Kalk aus. Ben verlangsamte seine Schritte. Etwas lag vor ihm auf dem Boden. Dünn und gebogen ragte es in den Gang. War es eine Schlange, die da starr seiner harrte. Er blieb stehen. Auf dem Boden lagen Steine, darüber baumelte eine Wurzel, die offensichtlich die Wand durchstoßen hatte und sich nun weiter einen Weg suchte.
Ben drückte sich an ihr vorbei. Der Schein der Taschenlampe leuchtete gegen eine helle Ziegelwand. Hier war der schmale Gang zu Ende.
*
Die Vögel zwitscherten bereits. Walde konnte nicht unterscheiden, ob es Tageslicht oder das Licht der Straßenlaternen war, das durch den Spalt zwischen den Vorhängen zu sehen war.
Er lauschte Doris’ Atem, den Vogelstimmen und den Geräuschen des frühen Morgens. Annika lag still in ihrem Bettchen. Walde erhob sich leise. Erst als er sich über die Kleine beugte, hörte er ihr zartes Schnaufen. Er legte sich wieder hin, schloss die Augen und stellte sich vor, wie er seine Familie vor den Unbilden der Welt bewahrte. Draußen rumpelte ein Lkw vorbei. Walde setzte sich auf. Doris hatte ein dünnes Seidenlaken bis zu den Ohren gezogen. Ihre Beine lagen frei, eins gestreckt, das andere angewinkelt. Er hob das Tuch ein wenig an, um ihren Hintern zu betrachten. Sie murmelte etwas und drehte sich um. Schnell zog er das Laken bis zu ihren Knien.
Walde zog sich ein T-Shirt und eine kurze Sporthose über und schnürte in der Diele die Laufschuhe zu. Dabei streifte Minka um ihn herum. Aus der Küche holte er ein Schälchen Nassfutter und stellte es auf die Terrasse. Während Minka gierig die ersten Happen fraß, kraulte er ihr den Kopf.
Zurück in der Diele schnappte er sich mit dem Schlüsselbund auch Doris’ kleinen MP3-Player.
Auf der Straße wehte ihm ein frischer Wind entgegen. Er war kühler, als er erwartet hatte. Noch bevor er den Fluss sah, löste der Geruch in ihm die freudige Erregung aus, die er schon als Kind gespürt hatte, wenn er seinen Vater zum Angeln an die Mosel begleiten durfte. Er konnte sich nicht satt sehen an dem dahinströmenden Wasser, der Weite des Tals, den in der Ferne steil aufragenden roten Felsen.
Auf dem alten Treidelweg dicht am Wasser gab Walde das langsame Antraben auf und steigerte sein Lauftempo. Ein senkrecht im Wasser stehender Ast trieb vorbei. Das Auf- und Abschaukeln des Asts erinnerte ihn daran, wie sein Vater auf einmal vollkommen konzentriert wurde, wenn der Schwimmer an der Angel ganz kurz unter- und dann wieder auftauchte. Ein Fisch hatte Interesse am Köder gezeigt, aber noch nicht angebissen. Was konnte es sein, was da unter der braunen Oberfläche zugange war? Vielleicht sogar ein Hecht oder nur ein kleiner Schneider, den sein Vater anschließend wieder zurückwerfen würde?
Nebenan donnerte ein Lkw über die vierspurige Uferstraße. Walde hängte sich die Stöpsel des Geräts in die Ohren und drehte die Musik so weit auf, bis alle übrigen Geräusche verschwanden. Die Phantastischen Vier besangen den ’Tag am Meer’.
Walde lief im Spurt neben einem stromaufwärts tuckernden Lastkahn her. Aus dem offenen Laderaum ragten Kohlestaubhügel. Meter um Meter kämpfte er sich an dem Kahn vorbei. Sein Atem ging immer schneller.
Er hielt das hohe Tempo. Als er unter der Römerbrücke hindurchspurtete, nutzte er die Pfeiler als Kontrolle, um zu prüfen, wer als Erster die Nase vorn hatte. Tatsächlich – er hatte das Schiff überholt. Walde trabte aus und hielt sich am Schild neben dem Anlegesteg fest. Auf dem einen Bein stehend, dehnte er das andere. Er fühlte sich, als würde er es nicht mehr bis nach Hause schaffen.
Der Markusberg begann zu glühen, noch bevor die Sonne über dem gegenüberliegenden Petrisberg zu sehen war.
Walde trabte langsam zurück. Was war es, das ihm an Robert nicht behagte? Traute er ihm nicht, weil er nebenbei Fotos für die Zeitung machte, oder war es tatsächlich Robs mächtiger Schnauz, der ihn unangenehm an jemanden von früher erinnerte, den er längst vergessen hatte? Fakt war, dass er sich wegen Robert mit Monika angelegt und seine schlechte Laune nach Hause mitgenommen hatte. Doris war gestern Abend zu einer Versammlung der Stadtführer gegangen und erst
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