Marathon
davonziehen. Er
verdrängte das Gefühl, gerade gedemütigt worden zu
sein, indem er sich überlegte, wie man wohl während des
Laufakts Kontakt zum anderen Geschlecht aufnehmen
könnte.
»Hallo,
schöne Frau. Wie viele Runden laufen Sie noch? Wollen wir
danach ein Glas Wasser im Biergarten am Kahnweiher trinken?«
Schwer vorstellbar, zumal er schon jetzt das Gefühl hatte, in
Kürze überhaupt nicht mehr sprechen zu
können.
»Laufen macht
den Kopf frei«, hatte ihm sein Kollege von der Sitte geraten.
»Da kommst du auf andere Gedanken, einfache, klare
Gedanken.« Nun suchte er nach diesen Gedanken, doch sie
wollten sich nicht einstellen. Noch einmal die philosophische
Schwerstarbeit, die sonst am Tresen geleistet wird, rekapitulieren
- nachdenken über den Sinn des Lebens voll fremdbestimmter
Arbeit? Das war ihm zu anstrengend. Stattdessen beneidete er die
türkische Familie, an der er vorbeirannte, die lautstark und
gestenreich eine Debatte über die Lage der Welt zu führen
schien, an der er zurzeit nicht teilhaben durfte. Da lagen
Leckereien auf einer Decke, standen Thermoskannen und
Plastikschüsseln herum, in denen er selbst gemachte
Spezialitäten vermutete.
Kurz darauf kniff es
ihn zum ersten Mal in der linken Wade. Fünf Runden sind ganz
schön viel, dachte er, während er das Ende der ersten in
weiter Ferne vor sich sah.
Auf dem Spielplatz
hing eine Gruppe Schulschwänzer herum. Warum sind die jungen
Mädchen heute eigentlich fast alle so furchtbar dick? Der
Gedanke lenkte ihn von den eigenen Pfunden ab, die lästig um
ihn herumbaumelten und zunehmend schwerer wurden. Und warum tragen
sie ihren dicken gepiercten Bauch mit bauchfreien Shirts durch die
Innenstadt? Und überhaupt: Was sollte der Unsinn, sich Metall
durch die Haut piksen zu lassen? Oder: Was erwartet eine Frau, die
sich abends allein an einen Kneipentresen setzt? Und noch
wichtiger: Was hatte er falsch gemacht, als er sich
letztes Wochenende neben eine dieser Frauen gesetzt
hatte?
Mit diesen
existenziellen Fragen half er sich über die nächsten
hundert Meter. Ja, er wusste es selbst: Er hatte seine Probleme mit
dem anderen Geschlecht. Die Kontaktaufnahme war sein Hauptproblem,
und er hatte den Eindruck, dass die mit zunehmendem Alter immer
schwieriger wurde. Er hatte das Flirten verlernt. Dieses Reden
über Belanglosigkeiten, dieses Komplimentemachen, dieses
Reißen kleiner Witzchen.
Das Zwicken in der
Wade wurde stärker. Bahnte sich da ein Krampf den Weg in die
an der Parkbank auf diese Anstrengung doch eigentlich vorbereitete
Muskulatur? Er biss die Zähne aufeinander und machte sich
klar, dass sich hinter dem Schmerz natürlich nichts anderes
verbarg als wachsende Muskeln. Eine Gruppe junger Läufer kam
ihm entgegen, alle im selben Trikot, sich locker beim Laufen
unterhaltend. Sie trainierten offensichtlich mit einem Sportlehrer
für den Schulmarathon, eine Art Staffellauf im Rahmen des
großen Marathons, auf den sich die Stadt vorbereitete. Die
Jugendlichen mussten nicht die ganze Strecke allein laufen, sondern
konnten sich die Distanz aufteilen. Als sie an ihm vorbeiliefen,
würdigten sie ihn keines Blickes. Ein gutes Zeichen, wie er
fand.
Und trotzdem drehte er
am Rosengarten um. Die zweite Runde wurde ihm zu lang. Er freute
sich, die Frau im Mailand-Trikot noch einmal von vorne zu sehen.
Sie lächelte sogar, als sie ihm entgegenkam. Ihm kam der
Gedanke, sie könnte sich über ihn lustig gemacht haben.
Als er sein Auto erreichte, war er erleichtert. Anderthalb Runden
waren nicht schlecht für den Anfang, fand er. Und noch
wichtiger: Er hatte den Vorsatz von gestern Abend nicht vergessen.
Und überhaupt: So schlecht ging es ihm doch gar
nicht.
Er setzte sich
keuchend und schwitzend ins Auto und wartete hinterm Steuer auf die
Frau im Mailand-Trikot. Nach einer weiteren Viertelstunde gab er
auf.
»Was haben
wir?«, fragte Remmer, während sie in ihrer großen
Kaffeetasse rührte. Bis zum Nachmittag hatte die routinierte
Maschine des Polizeiapparates ihre Pflicht getan.
Gröber schloss
den Bericht der Pathologen und dachte darüber nach, ob es
Schmallenbergs Stimme gewesen war, die er bei seinem
nächtlichen Anruf bei seiner Chefin
»Chérie« hatte sagen hören. Das passte gar
nicht zu dem sachlichen Mediziner. Er hätte sie gern danach
gefragt.
»Drei Stiche,
zwei in den Hals, einer in den Bauch. Der Mörder hat die
Klinge gedreht, um tiefe Wunden zu schlagen. Als das Blut zu
gerinnen drohte, muss er noch mal zugestoßen
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