Marc Levy
Verhalten, und er erwähnte ihre schmalen Hände, die sie beim Reden anmutig bewegte.
»Wenn ich Sie nach dem Weg zur nächsten Metrostation gefragt hätte, hätten Sie mir dann auch gleich noch alle Zugverbindungen genannt?«
»Entschuldigung, ich verstehe nicht.«
»Beschreiben Sie Frauen immer so ausführlich?«
»Wie sind Sie hereingekommen, haben Sie einen
Zweitschlüssel?«
»Den brauche ich nicht. Es ist so unfassbar, dass Sie mich sehen können!«
Wieder fing sie damit an. Es käme ihr vor wie ein Wunder, dass er sie sehen könne. Seine Art, sie zu beschreiben, habe ihr sehr gefallen, sagte sie und forderte ihn auf, sich neben sie zu setzen. »Das, was ich Ihnen sagen werde, ist nicht einfach zu verstehen und ganz und gar unvorstellbar, aber wenn Sie bereit sind, meine Geschichte anzuhören und mir zu vertrauen, dann werden Sie mir am Ende vielleicht glauben, und das ist sehr wichtig, denn Sie sind, ohne es zu wissen, der einzige Mensch auf der Welt, mit dem ich dieses Geheimnis teilen kann.«
33
Arthur begriff, dass er keine Wahl hatte, dass er sich anhören musste, was diese junge Frau ihm zu sagen hatte, und obwohl er nichts sehnlicher wünschte, als zu schlafen, setzte er sich neben sie und lauschte der unglaublichsten Geschichte, die er je gehört hatte.
Sie hieß Lauren Kline. Sie behauptete, Assistenzärztin zu sein und vor sechs Monaten einen Autounfall gehabt zu haben, einen schweren Autounfall, wegen einer defekten Lenkung.
»Seitdem liege ich im Koma. Nein, denken Sie noch nichts, lassen Sie mich erst erklären.« An den Unfall selbst hatte sie keinerlei Erinnerung. Sie war erst nach der Operation im Aufwachraum wieder zu sich gekommen. Sehr merkwürdig hatte sie sich da gefühlt, denn sie hörte alles, was um sie herum gesprochen wurde, konnte sich aber weder bewegen noch sprechen. Zuerst hatte sie geglaubt, das seien die Nachwirkungen der Narkose. »Ich irrte mich. Stunde um Stunde verging, und ich schaffte es immer noch nicht, physisch aufzuwachen.« Sie nahm weiterhin alles wahr, konnte sich der Außenwelt aber nicht mitteilen. Also hatte sie angenommen, sie sei querschnittsgelähmt, und ein paar Tage lang die schlimmsten Ängste ihres Lebens ausgestanden. »Sie können sich nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe. Für den Rest meines Lebens in meinem Körper gefangen zu sein!«
Sie hatte sterben wollen, doch es ist schwierig, Schluss zu machen, wenn man nicht einmal den kleinen Finger heben kann. Ihre Mutter saß an ihrem Bett. In Gedanken flehte sie sie an, sie mit ihrem Kopfkissen zu ersticken. Dann war ein Arzt hereingekommen, und Lauren hatte die Stimme ihres Professors erkannt. Mrs. Kline hatte ihn gefragt, ob ihre Tochter etwas verstünde, wenn man mit ihr redete. Fernstein hatte geantwortet, er wisse es nicht, es gäbe aber Grund zu der Annahme, dass Patienten in ihrem Zustand die Außenwelt wahrnehmen, man solle also aufpassen, was man in ihrer Gegenwart sage. »Mama wollte wissen, ob ich eines Tages 34
wieder aufwachen würde.« Fernstein hatte mit ruhiger Stimme geantwortet, dass er auch das nicht wisse, dass man sich ein wenig Hoffnung bewahren müsse, aber nicht allzu viel. Es seien schon Patienten nach mehreren Monaten wieder aufgewacht, das sei zwar selten, aber möglich. »Alles ist möglich«, hatte er gesagt. »Wir sind keine Götter, wir wissen nicht alles.« Und dann hatte er hinzugefügt: »Das Koma ist noch immer ein Rätsel für die Medizin.« Seltsamerweise war sie erleichtert gewesen: Ihr Körper war intakt! Die Diagnose war zwar nicht sonderlich beruhigend, aber wenigstens nicht endgültig. »Querschnittslähmung ist unheilbar. Im Fall des Komas besteht noch Hoffnung, wenn auch sehr wenig«, fügte Lauren hinzu. Die Wochen vergingen, lange, immer längere Wochen. Sie lebte in ihren Erinnerungen und rief sich vertraute Plätze ins Gedächtnis. Eines Nachts, als sie an das Leben jenseits ihrer Zimmertür dachte, stellte sie sich den Korridor vor, die Schwestern, die vorbeikamen, mit Stapeln von Akten auf dem Arm oder einem Wagen, den sie vor sich her schoben, ihre Kollegen, die von einem Zimmer zum anderen gingen ...
»Da ist es zum ersten Mal passiert: Ich fand mich plötzlich auf dem Flur wieder, an den ich gerade so intensiv gedacht hatte. Zuerst glaubte ich, meine Phantasie sei mit mir durchgegangen: Ich kenne das Krankenhaus in- und auswendig, schließlich arbeite ich dort. Aber alles war so unglaublich realistisch. Ich sah das Personal um mich
Weitere Kostenlose Bücher