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Marc Levy

Marc Levy

Titel: Marc Levy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Solange du da bist
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hervorragender Augenarzt. An jenem Abend war er irgendwie seltsam, wie verwirrt oder befangen, ganz im Gegensatz zu sonst. Es war so auffallend, dass Arthurs Mutter ihn schließlich besorgt fragte, was mit ihm los sei. Da erzählte er, was er soeben erlebt hatte. Vierzehn Tage zuvor hatte er ein kleines Mädchen operiert, das von Geburt an blind war. Sie wusste nicht, wie sie aussah, hatte keine Vorstellung davon, was der Himmel war, kannte keine Farben und nicht das Gesicht ihrer Mutter. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Formen und Umrisse nur ertastet, ohne sich jemals ein Bild davon machen zu können, was ihre Hände ihr erzählten.
    Und dann hatte Coco, so wurde Doktor Miller genannt, das Unmögliche gewagt und das Mädchen operiert. Am Morgen vor dem Besuch bei Arthurs Eltern war er allein bei ihr in ihrem Zimmer gewesen, um den Verband zu entfernen.
    »Du wirst schon anfangen, etwas zu sehen, bevor ich den Verband ganz abgenommen habe. Mach dich darauf gefaßt!«
    »Was werde ich sehen?« fragte sie.
    »Ich habe es dir schon erklärt, du wirst Licht sehen.«
    »Was ist das, Licht?«
    »Leben, warte noch einen Augenblick ...«
    Und wie er versprochen hatte, drang wenige Sekunden später 90
    das erste Tageslicht in ihre Augen. Schneller als ein entfesselter Fluß, der einen Damm niederreißt, strömte es durch die Öffnungen der Pupillen, brach sich in den Linsen und spülte Milliarden von Informationen auf den Grund ihrer Augen. Zum ersten Mal seit der Geburt dieses Kindes stimulierte ein Reiz die unzähligen Zellen der Netzhaut, die beiden Sehnerven erwachten aus langem Schlaf und begannen die gewaltige Datenmenge an das Gehirn weiterzuleiten. In wenigen Tausendstelsekunden entschlüsselte dieses die empfangenen Impulse, fügte sie zu bewegten Bildern zusammen und überließ dem Bewusstsein die Aufgabe, sie miteinander in Beziehung zu setzen. Das kleine Mädchen, das zugleich ungeduldig und bange war, nahm Cocos Hand und sagte: »Warte, ich habe Angst.« So wartete er ein bisschen, nahm sie in die Arme und erzählte ihr, was passieren würde, sobald er den Verband ganz abgenommen hätte. Sie würde Hunderte von neuen Eindrücken aufnehmen, verstehen und mit dem vergleichen müssen, was ihre Vorstellung bisher für sie erschaffen hatte. Dann wickelte Coco den Verband weiter ab.
    Als sie die Augen öffnete, sah sie zuerst ihre Hände an; sie drehte und wendete sie wie Puppen. Sie neigte den Kopf, lächelte, lachte und weinte zugleich und konnte den Blick nicht von ihren zehn Fingern wenden, wie um all dem anderen um sich herum zu entfliehen, das nun Gestalt annahm. Dann betrachtete sie ihre Puppe, diese Form aus Stoff, die sie durch die ewige Finsternis ihrer Nächte und Tage begleitet hatte.
    Ganz leise war ihre Mutter ins Zimmer getreten. Das kleine Mädchen hob den Kopf. Sie hatte sie noch nie gesehen!
    Dennoch veränderte sich augenblicklich die Miene des Kindes.
    Im Bruchteil einer Sekunde nahm sein Gesicht wieder den Ausdruck eines ganz kleinen Mädchens an, es streckte die Arme aus und rief ohne zu zögern nach dieser »unbekannten«
    Mama.
    »Als Coco die Geschichte zu Ende erzählt hatte, habe ich 91
    verstanden, dass es von nun an in seinem Leben etwas gab, woraus er immer wieder Kraft schöpfen würde, er konnte sich sagen, dass er etwas Bedeutendes getan hatte. Sag dir einfach, Lauren, dass ich das, was ich für dich tue, im Gedenken an Coco Miller tue. Und nun lass mich nachdenken.«
    Lauren schwieg. Arthur setzte sich aufs Sofa und begann auf einem Bleistift herumzukauen. So verharrte er eine ganze Weile, dann sprang er auf, setzte sich an seinen Schreibtisch und machte sich daran, etwas auf ein Blatt Papier zu kritzeln.
    Lauren ließ ihn nicht aus den Augen, wie eine Katze, die einen Schmetterling oder eine Fliege belauert. Sie neigte den Kopf und quittierte jede seiner Gesten, seiner Bewegungen, mit einem fragenden Gesichtsausdruck. Als er fertig war, wandte er sich mit sehr ernster Miene an sie.
    »Welche Behandlung bekommt dein Körper im
    Krankenhaus?«
    »Außer der Körperpflege, meinst du?«
    »Vor allem die medizinische Betreuung.«
    Sie erklärte ihm, dass sie über den Tropf ernährt würde.
    Dreimal pro Woche wurden ihr prophylaktisch Antibiotika gespritzt. Um ein Wundliegen zu verhindern, wurde sie an den Hüften, den Ellbogen, an Knien und Schultern massiert.
    Darüber hinaus musste nur ihr Kreislauf, das hieß Blutdruck, Puls und Atemfrequenz, und ihre Temperatur regelmäßig

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