Marc Levy
ihn der Lösung des Problems näher. Mit jedem Buch, das er weglegte, hoffte er, im nächsten endlich auf einen Hinweis zu stoßen. Jeden Morgen zur Öffnungszeit betrat er pünktlich die Bibliothek, setzte sich mit einem Stapel Handbücher an seinen Platz und vertiefte sich in seine »Hausaufgaben«. Manchmal unterbrach er sich, stand von seinem Pult auf und ging zu einem Informationsschalter, um der einen oder anderen Koryphäe der Medizin E-Mails voller Fragen zu senden. Einige antworteten ihm, und manche waren sogar sehr interessiert daran, zu erfahren, was das Ziel seiner Nachforschungen sei. Dann kehrte er an seinen Platz zurück und nahm die Lektüre wieder auf.
Zum Mittagessen setzte er sich mit ein paar Fachzeitschriften in die Cafeteria, und erst gegen zweiundzwanzig Uhr, wenn die Bibliothek geschlossen wurde, beendete er seine Arbeit.
Spät am Abend erzählte er Lauren, was er tagsüber gelesen hatte. Wenn sie darüber diskutierten, vergaß Lauren nicht selten, dass Arthur gar kein Medizinstudent war. Es verblüffte sie, wie schnell er sich eine ganze Reihe medizinischer 85
Fachwörter angeeignet hatte. Oft argumentierten oder stritten sie bis spät in die Nacht und bis an den Rand der Erschöpfung.
Doch obwohl Arthur ihr gegenüber nie das geringste Zeichen von Entmutigung erkennen ließ und sich stets voller Optimismus äußerte, spürten beide in jedem Augenblick des Schweigens, dass sie keinen Schritt weiterkamen.
Am Donnerstagabend der dritten Woche verließ er die Bibliothek früher als sonst. Im Auto hörte er in voller Lautstärke ein Lied von Barry White. Ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht, und er bog in die California Street, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen. Er hatte zwar nichts Besonderes herausgefunden, doch ihm war nach einem Festessen zumute. Zu Hause würde er den Tisch decken, mit Kerzen und allem Drum und Dran, würde laut Musik anmachen, Lauren zum Tanz auffordern und jegliches Gespräch über medizinische Fragen unterbinden. Als sich das atemberaubend schöne Licht der Abenddämmerung über die Bucht legte, parkte er seinen Wagen vor dem kleinen viktorianischen Haus in der Green Street. Er tänzelte die Treppe hinauf, vollführte ein paar akrobatische Verrenkungen, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen, und betrat, mit Einkaufstüten bepackt, die Wohnung. Er kickte die Tür zu und stellte die Tüten auf die Küchentheke.
Lauren saß auf dem Fensterbrett. Sie widmete sich der Aussicht und wandte sich nicht um.
Arthur rief sie in fröhlichem Ton zu sich. Sie war ganz offensichtlich schlechter Laune und verschwand unvermittelt.
Aus dem Schlafzimmer hörte Arthur sie murmeln: »Und nicht mal eine Tür kann ich zuschlagen!«
»Stimmt was nicht?« rief er.
»Lass mich in Frieden!«
Arthur zog seinen Mantel aus und ging eilig zu ihr. Als er die Tür öffnete, sah er sie gegen die Scheibe gelehnt am Fenster stehen, das Gesicht in den Händen verborgen.
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»Weinst du?«
»Ich habe keine Tränen, wie soll ich da weinen?«
»Du weinst! Was ist passiert?«
»Nichts, gar nichts ist passiert.«
Sachte trat er an sie heran, legte seine Arme um sie und drehte sie um, damit er ihr Gesicht sehen konnte.
Sie senkte den Kopf. Mit einem Finger unter ihrem Kinn hob er ihn sanft wieder hoch.
»Was ist los?«
»Sie werden Schluss machen!«
»Schluss machen, wer?«
»Ich war heute Morgen im Krankenhaus, Mama war dort.
Sie haben sie überredet, in eine Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen einzuwilligen.«
»Was soll denn das heißen? Wer hat wen überredet, das zu tun?«
Laurens Mutter war wie jeden Morgen ins Memorial Hospital gegangen. Ein Arzt und zwei Ärztinnen erwarteten sie am Bett ihrer Tochter. Als sie das Zimmer betrat, kam eine von ihnen, eine ältere Frau, auf sie zu und fragte sie, ob sie allein mit ihr sprechen dürfte. Die beauftragte Psychologin nahm Mrs. Kline am Arm und bat sie, Platz zu nehmen.
Dann hielt sie ihr einen langen Vortrag, in welchem sie ihr mit allen erdenklichen Argumenten nahe zu bringen versuchte, das Unmögliche zu akzeptieren. Lauren sei nur noch ein Körper ohne Seele, an dem ihre Familie festhalte, obwohl er die Gesellschaft Unsummen koste. Es sei sehr viel leichter, einen geliebten Menschen künstlich am Leben zu erhalten, als seinen Tod zu akzeptieren, doch um welchen Preis! Aber man müsse der unendlich schmerzlichen Wahrheit ins Auge sehen und sich dazu entschließen, ohne jegliches Schuldgefühl.
Mrs. Kline wehrte
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