Marco Polo der Besessene 1
dekorativen Mustern darauf, die weder draufgemalt noch aufgenäht, sondern
eingebrannt waren... Nachdem sämtliche Zünfte auf der Piazza versammelt waren, trat der Doge Ranieri Zeno aus seinem Palast; wiewohl seine Amtstracht mir wie jedem anderen vertraut war, war sie doch so prächtig, dass er auf jedem Fest Ehre damit eingelegt hätte. Auf dem Kopf trug er die weiße scufieta, und über dem goldenen Rock, dessen Schleppe von drei in die herzogliche Livree gekleideten Dienern getragen wurde, das Hermelincape. Das Gefolge, das hinter ihm aus dem Palast hervorkam, bestand aus den Angehörigen des Rats und der Quarantia und anderer Edelleute und Würdenträger, die gleichfalls sämtlich auf das prächtigste gekleidet waren. Ihnen wiederum folgte eine Kapelle von Spielleuten, die jedoch ihren Lauten und Flöten und dreisaitigen Rebecs keinerlei Töne entlockten, als sie gemessenen Schritts zum Wasser hinuntergingen. Der vierzigruderige buzino des Dogen glitt gerade an die Mole heran, und die Prozession begab sich an Bord. Erst als die schimmernde Barke schon ziemlich weit draußen auf dem Wasser war, hoben die Spielleute an zu spielen. Damit warten sie immer so lange, weil sie wissen, dass die Musik eine besonders liebliche Tönung annimmt, wenn sie über die flachen Wellen hinweg zu uns Lauschenden an Land herübergeweht kommt.
Etwa um die Stunde der compieta senkte sich die Dämmerung hernieder, und auf der Piazza traten die lampaden in Aktion, das heißt, sie steckten die Eisenkörbe mit den Fackeln, die über den Arkadenbögen angebracht sind, in Brand; ich jedoch verweilte immer noch vor Dona Ilarias Tür. Mir war, als wartete ich schon eine Ewigkeit, und nachgerade verspürte ich nagenden Hunger. Ich hatte es nicht einmal gewagt, mich soweit zu entfernen wie bis zu den Ständen der Obsthändler; gleichwohl war ich bereit, den Rest meines Lebens zu warten, sollte sich das als notwendig erweisen. Zumindest fiel ich um diese späte Stunde nicht mehr so auf, denn mittlerweile war die Piazza gesteckt voll, und nahezu alle Flanierer trugen irgendeine Art von Kostüm.
Manche tanzten nach der fernen Musik der Kapelle des Dogen, andere sangen zur Begleitung der schmetternden castroni, doch die meisten stolzierten nur im Schmuck ihrer eigenen Prachtgewänder auf und ab, um sie zu zeigen und die von anderen zu bestaunen. Die jungen Leute bewarfen einander mit confeti, den Brosamen von Süßigkeiten sowie den mit Duftwasser gefüllten Eierschalen. Die älteren Mädchen trugen Orangen und warteten, den Blick irgendeines Galans zu erhaschen, dem sie sie zuwerfen konnten. Diese Sitte soll an die Orange erinnern, die Jupiter und Juno als Hochzeitsgeschenk verehrt wurde; und ein junger Mann darf sich rühmen, ein besonders begehrter Jupiter zu sein, falls seine Juno die Orange mit solcher Kraft wirft, dass er ein blaues Auge davonträgt oder gar einen Zahn dabei verliert.
Dann, als das Zwielicht sich verdichtete, rollte von See her der caligo, der salzhaltige Nebeldunst heran, der Venedig des Nachts so oft einhüllt, und ich war nachgerade froh über meinen wollenen Mantel. In diesem Nebel wandelten sich die Fackeln aus flackernd-glosenden Körben aus Eisengeflecht in weichrandige Lichtkugeln, die wunderbarerweise in der Luft zu schweben scheinen. Die Menschen auf der Piazza wurden nun dunkler und zu zusammenhängenden Nebelbatzen, die durch feineres Nebelgespinst hindurchziehen, es sei denn, sie gingen zwischen mir und einer der verschwommen glimmenden Fackeln hindurch. Dann nämlich gingen unverhofft Schattenspeichen und Schattenkeile von ihnen aus, die gleich schwarzen Schwertklingen aufblinkten, die den grauen Nebel zerteilten. Nur wenn ein Müßiggänger nahe an mir vorüberkam, verdichtete er sich wieder zu etwas Handfestem, um sich im nächsten Augenblick wieder zu Ungreifbarem aufzulösen. Wie etwas aus einem Traum nahm dann wohl ein Engel Fleisch und Blut an: ein Mädchen, ganz in Gaze und Flitter und mit lachenden Augen, das sich unversehens wieder in etwas Alptraumhaftes verwandelte: in einen Satan mit lackrotem Gesicht und Hörnern.
Plötzlich ging die Tür hinter mir auf, und der graue Nebel wurde von hellem Lampenlicht zerteilt. Ich drehte mich um und erblickte zwei Schatten vor dem Strahlen, aus denen dann meine Dame und ihr Gatte hervorgingen. Wahrhaftig, hätte ich nicht an ihrer Tür Aufstellung genommen, ich würde weder ihn noch sie erkannt haben. Er war von Kopf bis Fuß in eine der Standardfiguren der
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