Marco Polo der Besessene 1
studieren. Irgendwie schien sie erregt und versäumte es, mich in irgendeiner Weise liebevoll zu begrüßen, sondern sagte nur: »Selbstverständlich kann ich lesen, aber aus Eurer erbärmlichen Handschrift werde ich nicht schlau. Lest es mir vor.«
Ich tat, wie mir geheißen, und sie sagte, jawohl, wie jedes andere Mitglied des Großen Venezianischen Rates werde ihr Gatte sowohl an den Bestattungsfeierlichkeiten für den verstorbenen Dogen als auch an der Inthronisation des neuen teilnehmen, sobald dieser gewählt worden sei. »Warum fragt Ihr?«
»Das gibt mir zwei Möglichkeiten«, erklärte ich. »Ich werde versuchen, Euch meine Ergebenheit am Tag der Bestattung zu beweisen. Sollte sich das als unmöglich erweisen, werde ich zumindest eine bessere Vorstellung haben, wie ich bei der nächsten Versammlung der Edelleute vorzugehen habe.«
Sie nahm mir das Billett ab und sah mich an. »Ich sehe meinen Namen nicht auf dem Papier.«
»Selbstverständlich nicht«, sagte ich, der erfahrene
Verschwörer. »Ich würde doch nie eine lustrisima
kompromittieren.«
»Und steht Euer Name darauf?«
»Jawohl.« Voller Stolz zeigte ich darauf. »Hier. Das ist mein
Name, meine Dame.«
»Ich habe gelernt, dass es nicht immer klug ist, Dinge dem
Papier zu überantworten.« Sie faltete den Bogen zusammen
und steckte ihn sich ins Mieder. »Ich werde dies sicher
verwahren.« Schon wollte ich ihr sagen, sie solle den Zettel
doch zerreißen, doch fuhr sie -weiterhin ungehalten -fort und
sagte: »Ich hoffe, Ihr seid Euch darüber im klaren, wie töricht es
von Euch war, ungerufen hierherzukommen.«
»Ich habe so lange gewartet, bis er das Haus verließ.«
»Aber wenn sonst jemand -einer von den Verwandten oder
Freunden -dagewesen wäre? Jetzt hört mir mal gut zu Ihr
werdet nicht wieder hierherkommen, es sei denn, ich ließe
Euch rufen.«
Ich lächelte. »Bis wir frei sind...«
»Bis ich Euch rufen lasse. Und jetzt geht, und zwar rasch. Ich
erwarte -ich meine, er kann jeden Augenblick wieder hier
sein.«
So ging ich heim und übte weiter. Als am nächsten Abend die
pompe funebri begannen, war ich unter den Gaffern zu fi nden.
In Venedig wird selbst der Beerdigung auch des einfachsten
Bürgersmanns dadurch Würde verliehen, dass die Familie sich
soviel Prunk wie nur irgend möglich leistet; kein Wunder daher,
dass die Bestattung eines Dogen überaus glanzvoll verlief. Der
Tote lag nicht in einem Sarg, sondern -angetan mit seinen
schönsten Staatsgewändern -auf einer offenen Bahre; seine
steifen Hände umklammerten den Amtsstab; das Gesicht
hatten die Zeremonienmeister gleichsam mit dem Ausdruck
höchster Frömmigkeit erstarren lassen. Seine Witwe, die
Dogaressa, wich nicht von seiner Seite und war dermaßen dicht
verschleiert, dass nur ihre weiße Hand, die sie auf die Schulter
ihres verstorbenen Gatten gelegt hatte, zu sehen war.
Zunächst wurde die Bahre auf das Dach des großen herzoglichen buzino d'oro niedergelegt, an dessen Bugspriet das goldviolette Banner des Dogen auf halbmast wehte. Die Barke wurde feierlich gemessen -so dass die vierzig Ruder sich kaum zu bewegen schienen -die Hauptkanäle der Stadt entlanggerudert. Um sie herum und vor allem hinter ihr drängten sich schwarze Trauergondeln, mit Trauerflor ausgeschmückte bafeli und burchielli mit den Ratsmitgliedern, der Signoria und der Qua-rantia sowie der vornehmsten Priester und den Angehörigen der Zünfte an Bord, wobei das gesamte Gefolge abwechselnd sang und betete. Nachdem der Tote genügend auf den Wasserwegen auf und ab gefahren worden war, wurde seine Bahre von der Barke herunter auf die Schultern von acht seiner Edelleute gehoben. Da der corteggio sich durch alle Hauptstraßen der Stadt zu winden hatte und da so viele von den Bahrenträgern betagte Herren waren, wechselten sie sich oft mit anderen Männern ab. Auch hier folgten der Bahre die Dogaressa und alle anderen Trauernden vom Herzogshof, jetzt jedoch zu Fuß. Die Musikanten spielten klagend-gemessene Weisen, und Abordnungen von den Brüderschaften der Flagellanten taten schlaff, als geißelten sie sich; zum Schluß kamen alle anderen Venezianer, die nicht gerade verkrüppelt oder zu jung waren.
Während der Wasserprozession konnte ich nichts anderes tun, als zusammen mit den anderen Bürgern vom Ufer aus zuzusehen. Als sie an Land fortgesetzt wurde, fand ich, dass das Glück mir in meinem Plan zu Hilfe kam. Denn jetzt wälzte sich von
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