Marco Polo der Besessene 2
einzige, worum es dir geht -, ist die Frage, ob du deinen unnatürlichen Liebhaber verlieren kannst. Wer immer für ihn ist, ist gegen mich. Du und ich, wir sind von einem Blut, Mafìo Polo, aber wenn du das vergißt - ich kann es auch vergessen.«
»Marco, Marco, laß uns wie vernünftige Männer darüber reden.«
»Männer?« Wie ein Peitschenhieb kam dieses Wort heraus, so zerstört war ich, so verwirrt und so von Traurigkeit erfüllt. In Gegenwart meines Onkels hatte ich immer das Gefühl gehabt, nie erwachsen geworden, immer der kleine Junge geblieben zu sein, der ich gewesen war, als wir unsere Reise angetreten hat-ten. Jetzt plötzlich, in Gegenwart dieses Zerrbilds seiner selbst, kam ich mir unendlich viel älter vor, als er es war, und als der bei weitem stärkere von uns beiden. Gleichwohl war ich mir nicht sicher, ob ich so stark war, diesen Widerstreit der Gefühle aushalten zu können -zusätzlich zu all den anderen Gefühlen, die an diesem Tag in mir aufgebrochen waren -, und ich hatte Angst, plötzlich zusammenzubrechen und ein Häufchen Elend zu sein, das nichts weiter konnte, als heulen und winseln. Um das zu vermeiden, hob ich die Stimme und schrie noch einmal: »Männer? Hier!« Ich packte einen blitzenden Messingspiegel von seinem Nachttisch. »Schau dich doch an, Mann!« Mit diesen Worten warf ich den Spiegel in seinen seidenumhüllten Altweiberschoß. »Mit einer derart aufgetakelten Schlampe unterhalte ich mich nicht mehr! Wenn du noch mal mit mir reden willst, komm morgen zu mir -aber komme mit einem sauberen Gesicht. Ich gehe jetzt zu Bett. Dies ist der schlimmste Tag meines Lebens gewesen!«
Und das stimmte. Nur war dieser Tag noch nicht vorüber. Wie ein gehetzter Hase, der nur um Haaresbreite vor der ihn verfolgenden Meute den schützenden Bau erreicht, wankte ich in meine Gemächer. Dort war es dunkel und leer; gleichwohl gab ich mich nicht der Illusion hin, sie als sicheren Bau zu betrachten. Der Wali Achmad konnte sehr wohl wissen, daß ich allein war und niemand mir helfen konnte -möglich sogar, daß er die Palastverwalter dazu gebracht hatte, dafür zu sorgen, daß dem so war -und ich beschloß, die ganze Nacht im Sitzen zu verbringen, wach und vollständig angekleidet. Ich war ohnehin so müde, daß ich keine Lust hatte, mich auszuziehen.
Kaum war ich auf einer Bank niedergesunken, da war ich plötzlich wieder hellwach, wie der gehetzte Hase; denn lautlos glitt meine Tür auf, und ein dämmeriges Licht strömte herein. Meine Hand war bereits an meinem Dolch, da erkannte ich, daß es nur eine Dienerin war, unbewaffnet und keine Bedrohung. Dienerinnen hüstelten für gewöhnlich höflich oder gaben sonst einen warnenden Laut von sich, ehe sie eintraten, doch diese hatte es nicht getan, weil sie es gar nicht konnte. Es war Huisheng, Lautloses Echo. Mochten die Palastverwalter auch versäumt haben, mir Dienerinnen zuzuweisen, Khan Kubilai vernachlässigte und vergaß nie etwas. Wiewohl vollauf mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigt, hatte er daran gedacht, sein letztes Versprechen an mich einzulösen. Eine Kerze in der einen Hand und - vielleicht aus Angst, ich könnte sie sonst nicht erkennen -den Weihrauchbrenner unter dem anderen Arm, trat sie ein.
Sie setzte den Brenner auf den Tisch und kam dann quer durch den Raum auf mich zu. Der Brenner war bereits mit dem allerfeinsten tsan-xi-jang-Weihrauch gefüllt, und was sie umwogte, war sein Duft – der Duft sonnengewärmter Kleefelder, über die ein sanfter Regen herniedergegangen ist. Ich fühlte mich sofort auf wunderbare Weise erfrischt und mit neuer Zuversicht erfüllt; fortan sollten Hui-sheng und dieser Duft für mich immer miteinander verbunden sein. Noch lange Jahre später weckt der Gedanke an Hui-sheng sofort die Erinnerung an diesen besonderen Duft in mir und erinnert mich der Duft eines solchen Feldes an sie.
Sie entnahm ihrem Mieder ein zusammengefaltetes Papier und reichte es mir. Dann hielt sie mir die Kerze hin, damit ich lesen könne. Ihr reizender Anblick hatte mich so wunderbar beruhigt und zugleich mit neuem Lebensmut erfüllt, daß ich ungesäumt und ohne jede Angst das Dokument entfaltete. Zu sehen war darauf ein Dickicht von schwarzen Han-Schriftzeichen, die ich nicht entziffern konnte; was ich jedoch sofort als solches erkannte, war das große Siegel von Kubilai, dessen roter Abdruck über einen Großteil der Schrift ging. Hui-shen zeigte mit zartem, elfenbeinernem Finger auf ein oder zwei Zeichen und
Weitere Kostenlose Bücher