Marco Polo der Besessene 2
die Leute nicht so sehr dazu, sich zu fragen: »Wer soll denn nun für diese Ungeheuerlichkeit büßen?«, als vielmehr zu der eher nachdenklichen und belustigten Frage: »Was für eine grauenhafte Mutter muß Meister Ping gehabt haben?«
Ich selbst, das muß ich gestehen, war weit weniger leichtfertig gestimmt. Meine Rache hatte ihren Lauf genommen, aber auf Kosten eines langvertrauten Gefährten, und so stürzte mich das alles in Schwermut. An dieser Niedergeschlagenheit änderte sich auch nichts, wenn ich Mafìo in seinen Gemächern aufsuchte, was ich fast täglich tat, um zu betrachten, was von ihm übriggeblieben war. Die hingebungsvolle, Dienerin sorgte dafür, daß er stets sauber und anständig (in Männerkleidung) gekleidet war, und stutzte ihm auch den grauen Bart, der nun wieder zu sprießen begonnen hatte. Er machte einen wohlgenährten und durchaus gesunden Eindruck, so daß man fast hätte meinen können, den laut polternden und kernigen Onkel Mafio von einst vor sich zu haben, nur daß seine Augen leer waren und er mit einer Art Muh-Stimme wie eine Kuh seine Tugendlitanai sang:
La virtù è un cavedàl aie sempre è rico,
che no patisse mai rùzene o tarlo…
Bekümmert ließ ich den Blick auf ihm ruhen und war tief gebeugt, als ein anderer Besucher unerwartet von seiner letzten Handelskarwan zurückkehrte, die ihn durch das ganze Land geführt hatte. Nie -nicht einmal, als er nach so langen Jahren wieder in Venedig aufgetaucht, da ich ein Junge gewesen war war ich so froh gewesen, meinen gütigen, sanften und langweiligen und wohlwollenden und farblosen alten Vater wiederzusehen.
Wir fielen einander in die Arme und küßten uns auf beide Wangen, wie Venezianer es nun einmal tun, dann standen wir nebeneinander, während er traurig auf seinen Bruder hinabblickte. Unterwegs, auf der Rückreise, hatte er in großen Zügen von allem gehört, was sich hier während seiner Abwesenheit abgespielt hatte: Vom Ende des Yun-nan-Feldzugs, meiner Rückkehr an den Hof, der Kapitulation der Sung, dem Tod von Achmad und Meister Ping, dem Selbstmord seines einstigen Sklaven Nasenloch, der unseligen Unpäßlichkeit des Ferenghi Polo, seines Bruders. Jetzt berichtete ich ihm, was nur ich ihm sagen konnte. Ich ließ nichts aus, selbst die niederträchtigsten und abscheulichsten Einzelheiten nicht, und als ich fertig war, warf er nochmals einen Blick auf Mafìo, schüttelte liebevoll und voller Bedauern den Kopf und murmelte voller Bedauern: »Tato, tato…«, die liebevolle Koseform, die da gedolmetscht lautete: »Brüderlein, Brüderlein…«
»… belo anca deforme«, muhte Mafìo offenbar in Erwiderung darauf. »Vivo anca sepolto…«
Bekümmert schüttelte Nicolò abermals den Kopf. Dann jedoch drehte er sich nach mir um und legte mir kameradschaftlich die Hand auf meine herabhängenden Schultern, straffte die eigenen, und vielleicht zum allerletztenmal war ich dankbar, eine seiner üblichen Ermutigungen zu hören:
»Ah, Marco, sto mondo xe fato tondo.«
Was nichts anderes besagen will, als daß, was immer geschieht, Gutes oder Schlechtes, Grund zur Freude oder zur Klage, »die Welt rund bleibt«.
MANZI
1
Allmählich legte sich der Sturm, den der Skandal entfesselt hatte. Der Khanbaliker Hof richtete sich einem Schiff gleich, das gefährlich gekrängt hatte, wieder auf, und der Kiel sorgte wieder für Ausgleich. Soweit ich weiß, hat Kubilai nie versucht, seinen Vetter Kaidu in bezug auf den ihm zugeschriebenen Teil an den unerhörten Geschehnissen der letzten Zeit zur Rechenschaft zu ziehen. Da Kaidu weit im Westen stand und jede Gefahr, daß er etwas mit einem Umsturz zu tun haben könnte, gebannt war, begnügte Kubilai sich damit, ihn zu lassen, wo er war, und wendete statt dessen alle Energie darauf, vor der eigenen Haustür wieder für Ordnung zu sorgen. Er begann das zu tun, indem er vernünftigerweise zunächst einmal die drei verschiedenen Ämter, die Achmad innegehabt hatte, unter drei verschiedene Männer aufteilte. Sein Sohn Chingkim bekam neben seiner Aufgabe als Wang der Hauptstadt auch noch das Amt des Vizeregenten aufgebürdet, der in Abwesenheit des Khakhan die Regierungsgeschäfte zu führen hatte. Meinen alten Schlachtgefährten Bayan beförderte er zum Oberminister, doch da Bayan es vorzog, als aktiver Orlok im Felde zu bleiben, ging auch dieses Amt auf den Prinzen Chingkim über. Vielleicht hätte Kubilai gern wieder einen Araber als Finanzminister gehabt - oder einen
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