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Marco Polo der Besessene 2

Marco Polo der Besessene 2

Titel: Marco Polo der Besessene 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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bemerkt hätte; nun lenkte sie meine Aufmerksamkeit darauf, so daß ich plötzlich mehr wahrnahm als je zuvor. Um ein ganz einfaches Beispiel zu geben: Sie sprang manchmal beim Spazierengehen unvermittelt von mir fort und lief auf etwas zu, das von weitem aussah wie ein gewöhnliches Büschel Unkraut. Sie jedoch kniete sich hin und pflückte etwas unauffällig wie Unkraut Aussehendes, brachte es mir und zeigte mir, daß es sich um eine zart knospende Blüte handelte, die sie behielt und pflegte, bis sie zu voller Schönheit erblühte.
    Einmal, in der Frühzeit, als wir noch dabei waren, unsere Sprache zu erfinden, verbrachten wir einen Nachmittag in aller Muße in einem jener Gartenpavillons, die der Palastbaumeister auf so sinnreiche Weise mit Röhren versehen hatte, daß unter der Dachtraufe angebrachte Krugflöten auf wunderbare Weise zum Erklingen gebracht werden konnten. Ein wenig unbeholfen schaffte ich es, Hui-sheng klarzumachen, wie diese Dinge funktionierten, wiewohl ich davon ausging, daß sie keine Ahnung hatte, was Musik eigentlich war, so daß ich rechtzeitig mit den Händen Figuren nach diesen trillernden Klängen in die Luft malte. Sie nickte strahlend, woraufhin ich meinte, daß sie mir zuliebe so täte, als ob sie verstehe. Plötzlich jedoch ergriff sie eine meiner Hände und legte sie an eine der geschnitzten Seitensäulen, ließ sie dort liegen und gab mir zu verstehen, ich solle sehr, sehr leise sein. Verblüfft, jedoch liebevoll amüsiert, tat ich ihr den Gefallen und erkannte nach einem Augenblick völlig fassungslos, daß ich die wirklich allerleisesten Schwingungen wahrnahm -Schwingungen, die von der Krugflöte über uns über das Holz an meine Hände vermittelt wurden. Mein stummes Echo hatte mir in der Tat stumm ein Echo gezeigt. Sie war imstande, Rhythmen selbst dieser unhörbaren Musik nicht nur wahrzunehmen, sondern sogar zu genießen - vielleicht sogar besser als durch Hören -, so empfindsam waren ihre Hände und ihre Haut.
    Diese außerordentlichen Fähigkeiten waren für mich auf meinen Reisen und bei meiner Arbeit und im Umgang mit anderen von unschätzbarem Wert. Das traf besonders in Manzi zu, wo man mir als Sendboten eines Eroberers selbstverständlich mit großem Mißtrauen begegnete und wo ich es mit grollerfüllten ehemaligen Adligen, habgierigen Großkaufleuten und kratzbürstigen Untergebenen zu tun hatte. Genauso, wie Hui-sheng eine für andere unsichtbare Blume erkennen konnte, erkannte sie häufig die unausgesprochenen Gedanken und Gefühle, Motive und Absichten anderer. Auch verstand sie sich darauf, mir die Augen dafür zu öffnen -manchmal allein, manchmal aber auch, während der Betreffende noch mit mir sprach -, was mir nicht selten zu einem großen Vorteil anderen gegenüber verhalf. Häufiger jedoch noch hatte ich den Vorteil, daß sie einfach an meiner Seite saß. Die Männer der Manzi, Adlige wie gewöhnliche Bürger, waren es nicht gewohnt, daß Frauen bei Männerbesprechungen dabei waren. Wäre die meine eine gewöhnliche Frau gewesen -einfältig, plappermäulig und schrillstimmig -, hätten sie mich als ungebildeten Barbaren oder als unter dem Pantoffel stehend verachtet. Hui-sheng stellte jedoch eine so bezaubernde und reizvolle (und wunderbarerweise schweigende) Bereicherung einer jeden Versammlung dar, daß jeder Mann sich äußerster Höflichkeit und bester Manieren befleißigte, sich ihr gegenüber höchst ritterlich äußerte, sich ins rechte Licht rückte und nahezu um sie herumscharwenzelte, um ihre Bewunderung zu erregen -und manchmal (das weiß ich genau) in meine Forderungen einwilligten oder meinen Anweisungen folgten oder mir bei einem Handel das bessere Teil überließen, bloß damit Hui-sheng sie beifällig ansah.
    Sie war meine Reisegefährtin und hatte sich ein Kostüm zugelegt, das ihr gestattete, ein Pferd zu reiten wie ein Mann, woraufhin sie stets an meiner Seite ritt. Sie war meine fähige Gefährtin, meine Vertraute und in allem, nur dem Titel nach nicht, meine Frau. Ich wäre jederzeit bereit gewesen, »den Teller zu zerbrechen«, wie die Mongolen es nennen (da ihre von einem shamàn-Priester vollzogene Trauungszeremonie darin gipfelte, daß ein Stück feines Porzellan zerbrochen wird). Doch Hui-sheng - auch darin wieder anders als die Frauen sonst -maß der Tradition, der Form, dem Aberglauben oder dem Ritual keine Bedeutung bei. Sie und ich hatten uns gelobt, was wir uns hatten geloben wollen, und zwar unter uns, und das genügte uns

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