Marco Polo der Besessene 2
des zweiten großen Stroms, der in das Kithai-Meer fließt, der Yang-tze. Und jetzt, wo Kubilais Reich sich bis weit südlich des Yang-tze erstreckte, wurde der Kanal bis an die Hauptstadt Manzis, Hang-zho, vorgetrieben. Es handelte sich dabei um eine äußerst fortschrittliche Leistung, fast so groß und eindrucksvoll anzusehen wie die alte Große Mauer - allerdings von weit größerem Nutzen für die Menschheit.
Als unsere kleine karwan über den Yang-tze, den Gewaltigen Fluß, übergesetzt wurde, war es, als führen wir über ein rehfarbenes Meer, so breit, daß wir kaum die nur etwas dunkelbraunere andere Seite, das Ufer von Manzi, erkennen konnten. Mir fiel schwer, mir klarzumachen, daß es sich um denselben Wasserlauf handelte, über den ich weit, weit im Westen und in Yun-nan und To-Bhot, wo er Jin-sah hieß, einen Stein hätte werfen können.
Das Land, durch das wir bis jetzt hindurchgekommen waren, war zwar vorwiegend von Han bevölkert gewesen, nur hatte es nunmehr seit vielen Jahren unter mongolischer Herrschaft gestanden. Jetzt, da wir in einem Gebiet waren, das bis vor kurzem ein Teil des Sung-Reiches gewesen war, bewegten wir uns unter Han, deren Lebensweise völlig unbeeindruckt oder unbeeinflußt war von der kraftvolleren und lebendigeren mongolischen Gesellschaft. Gewiß, Mongolen-Patrouillen bewegten sich hin und her, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, und jede Gemeinde hatte jetzt einen neuen Wang, obwohl es sich bei diesen für gewöhnlich um Han aus Kithai handelte, die von den Mongolen eingesetzt waren. Diese jedoch hatten noch nicht genügend Zeit gehabt, das Land wirklich umzumodeln. Auch hatte man, da das Sung-Reich sich kampflos ergeben hatte und zu Manzi geworden war, nicht um einzelne Landesteile gekämpft und sie verwüstet oder in irgendeiner Weise verheert. Dem Auge bot es sich friedlich, blühend und angenehm dar. So kam es, daß ich von dem Augenblick unserer Landung am Manzi-Ufer ein womöglich noch größeres Interesse an unserer Umgebung nahm und sehr gespannt war, die Han gleichsam ›im Naturzustand‹ zu erleben.
Was am meisten ins Auge fiel, war ihre unglaubliche Erfindungsgabe und Geschicklichkeit. In der Vergangenheit war ich sehr geneigt gewesen, diese hochgerühmten Eigenschaften mit Hohn und Spott zu übergießen, denn schließlich hatte ich immer wieder erlebt, daß ihre Entdeckungen und Erfindungen so wenig praktisch zu verwerten waren wie -sagen wir, zum Beispiel ihre Einteilung des Kreises in dreihun-dertundsechzigeinviertel Abschnitte. In Manzi jedoch machte die Klugheit der Han großen Eindruck auf mich; und nie wurde mir das deutlicher vor Augen geführt als von einem wohlhabenden Landbesitzer, der mich auf einem Rundgang durch seinen Besitz mitnahm. Mich begleitete mein Schreiber, der für mich dolmetschte:
»Ein ausgedehnter Besitz«, sagte unser Gastgeber und wies mit weitausholender Gebärde darauf hin.
Vielleicht war es das in einem Lande, in dem ein Bauer im Schnitt klägliche ein oder zwei mou Land besaß. Woanders hätte er als geradezu lächerlich klein gegolten -etwa in Venetien, wo der Grundbesitz in ganzen Schock zonte gemessen wurde. Was ich hier sah, war jedoch nur ein Stück Land -gerade groß genug, um das offenbar aus einem einzigen Raum bestehende »Land-Haus« des Besitzers zu enthalten, der in So-zhu noch ein nicht geringes Anwesen besaß -sowie einen dichtbewachsenen Gemüsegarten neben dem Haus, ein dicht mit Rebranken bewachsenes Rankgitter, ein paar schwachbrüstige Schweinekoben, einen Teich, nicht größer als der kleinste Gartenteich in den Khanbaliker Palastgärten, und einen kleinen Hain von Bäumen, die ich nach den knorrigen, faustähnlichen Ästen für nichts weiter hielt denn gewöhnliche Maulbeerbäume.
»Kan-kàn! Schaut nur! Mein Obstgarten, meine Schweinezucht, mein Weinberg und meine Fischzucht!« sagte er großspurig, als treffe seine Beschreibung auf eine ganze, fruchtbare und blühende Präfektur zu. »Ich ernte Seide und Schweinefleisch, zu-jin-Fische und Trauben, um Wein daraus zu keltern - vier Dinge, die das Leben angenehmer machen.«
Letzteres taten sie, da war ich ganz seiner Meinung; nur konnte ich mich nicht enthalten zu erklären, daß hier wenig Raum zu sein scheine, eine wirklich gewinnbringende Menge von irgendeinem dieser Erzeugnisse zu ernten. Außerdem stellten die Erzeugnisse für meine Begriffe eine höchst eigentümliche Zusammenstellung dar.
»Aber wieso denn? Eines trägt das andere und vermehrt
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