Marco Polo der Besessene 2
schönsten Ackerbauerzeugnisse, Flaschen mit pu-tao und mao-tai, Spanferkel und am Spieß gebratene Lämmer, feinzubereitete Speisen und wunderschön zusammengestellte Blumensträuße. Diese ganze Fülle wies jedoch eine Lücke auf, denn in die Mitte des Tisches war ein Loch eingeschnitten, einer nach dem anderen krochen die Dörfler darunter, steckten den Kopf durch das Loch und verharrten eine Weile in dieser Stellung, duckten sich dann weg und machten einem anderen Platz. Als ich mich erstaunt erkundigte, was denn das zu bedeuten habe, fragte mein Schreiber nach und berichtete:
»Die Götter schauen herab und sehen die für sie aufgehäuften Opfer. Und unter den Opfergaben die Köpfe. Infolgedessen entfernen die Dorfbewohner sich in der festen Überzeugung, daß die Götter, da sie ihn ja bereits tot gesehen hätten, ihren Namen von der Liste derer streichen, die im nächsten Jahr mit Krankheit, Sorgen und Tod geschlagen werden sollen.«
Ich hätte lachen können, doch ging mir auf, daß -mochten die Leute sich auch einfältig aufführen - sie es jedenfalls auf höchst originelle Weise waren. Nachdem ich einige Zeit in Manzi geweilt und zahllose Beispiele der Han-Intelligenz bewundert und vielleicht ebenso viele Beispiele der Han-Einfalt beklagt hatte, rang ich mich zu einem Schluß durch. Die Han gebieten über große intellektuelle Fähigkeiten, verfügen über einen Bienenfleiß und eine blühende Phantasie, ließen jedoch in einer Hinsicht manchen Mangel erkennen: sie vergeuden ihre Begabung häufig, indem sie sich allzu fanatisch an ihrereligiösen Überzeugungen klammern, die nicht selten geradezu sträflich albern sind. Wären die Han nicht übertrieben mit ihren Vorstellungen von Rechtschaffenheit beschäftigt und so erpicht darauf, »Weisheit statt Wissen« zu erwerben (wie einer von ihnen es mir gegenüber einmal ausgedrückt hatte), ich glaube, dieses Volk als Volk wäre großer Dinge fähig gewesen. Hätten sie nicht ständig anbetend auf dem Bauch gelegen -eine Haltung, die eine Dynastie nach der anderen geradezu aufforderte, auf ihnen herumzutrampeln -, sie könnten längst Herrscher über die ganze Welt sein.
Der Bauernjunge, von dem ich vorhin gesprochen habe und dessen Einfallsreichtum und ausdauernden Fleiß ich bewundernswert gefunden habe, ging eines Großteils meiner Hochachtung verloren, als wir uns weiter unterhielten und er mir über meinen Schreiber sagen ließ:
»Meine Leidenschaft fürs Lesen und mein sehnlicher Wunsch nach Gelehrsamkeit könnte meinen betagten Eltern zum Kummer gereichen. Sie könnten meinen Ehrgeiz als anmaßend verurteilen, aber…«
»Warum, um alles auf der Welt, sollten sie das tun?«
»Wir halten uns an die Lehren des Kong Fu-tze, und eine davon besagt, ein Niedriggeborener sollte sich nicht über den ihm bestimmten Stand im Leben erheben. Ich wollte jedoch sagen, daß meine Eltern keineswegs etwas dagegen haben, denn meine Belesenheit bietet mir auch die Möglichkeit, meine Sohnestreue unter Beweis zu stellen, und eine weitere Regel lautet, daß Eltern im Leben höher geachtet werden müssen denn alles andere. Infolgedessen bringt mein Wunsch, mich abends zu meinen Büchern und meinen Glühwürmchen zurückzuziehen, mich dazu, als erster von uns schlafen zu gehen. Ich kann auf meinem Lager liegen und mich zwingen, beim Lesen vollkommen still zu liegen, damit sämtliche Mücken im Hause
ungehindert mein Blut saugen können.«
Blinkernd sagte ich: »Ich verstehe nicht.«
»So kommt es, daß, wenn meine alten Eltern den alten Leib auf ihrem Lager ausstrecken, die Mücken sich vollgesogen haben und satt sind; folglich belästigen sie sie nicht. Jawohl, meine Eltern tun bei den Nachbarn oft groß mit mir, und ich werde allen Söhnen als leuchtendes Beispiel hingestellt.«
Ich konnte es einfach nicht glauben und sagte fassungslos: »Das ist wirklich etwas Wunderbares. Die alten Toren tun groß damit, daß du dich bei lebendigem Leibe auffressen läßt, nicht jedoch damit, daß du dich bemühst voranzukommen.«
»Nun ja, das eine tun, heißt, sich den Vorschriften des Meisters Kong gegenüber gehorsam zu verhalten, wohingegen das andere…«
Ich machte »Vakh!« und ließ ihn einfach stehen. Eltern, die zu träge waren, auch nur die sie belästigenden Mücken zu erschlagen, nun deshalb auch noch in Ehren oder besonders lange am Leben zu halten, schien mir unsinnig. Ich glaube schon, daß man Vater und Mutter ehren soll, doch ich glaube, nicht einmal dieses
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