Marco Polo der Besessene 2
einer lautlosen Welt, nehme ich an, muß es mehr als für uns andere überaus wunderbar sein, etwas Glanzvolles zu sehen, zumal dann, wenn es so überwältigend glanzvoll ist, daß man es nicht nur sieht, sondern auch noch fühlt. Selbst ich hatte gespürt, wie die Steinbalustrade vor uns, ja, die ganze Nacht um uns herum und der Wucht des Anpralls vibrierten. Die grollende, zischende und rauschende See floß weiterhin kochend an uns vorüber und stromaufwärts, und nachgerade machten sich in dem weißen Schaum schwarzgrüne Streifen bemerkbar, bis schließlich das Schwarzgrün überwog und eine schaumlose kabbelige See die gesamte Breite des Flußbettes unter uns ausfüllte.
Als ich mich endlich wieder verständlich machen konnte, sagte ich zu Fung: »Was in aller Götter Namen ist das?«
»Neuankömmlinge sind für gewöhnlich tief beeindruckt«, sagte er, gleichsam als sei dies alles sein Werk. »Das ist der haixiao, die Flutwelle infolge Gezeitenwechsels.«
»Gezeitenwechsel!« rief ich aus. »Unmöglich! Gezeiten kommen und gehen gemessen und würdevoll.«
»Der hai-xiao vollzieht sich auch nicht immer so dramatisch«, räumte er ein. »Dazu kommt es nur, wenn die Jahreszeit, der Mond und bestimmte Stunden des Tages oder der Nacht zusammenfallen. Doch wenn das der Fall ist, kommt das Meer, wie Ihr eben selbst gesehen habt, mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes über diese trichterförmige Sandbank hinweg - und das über zweihundert li in nicht mehr Zeit, als man für eine gemächliche Mahlzeit braucht. Die Flußschiffer haben schon vor Jahrhunderten gelernt, ihn sich zunutze zu machen. Sie legen genau im richtigen Augenblick hier ab, und dann trägt der hai-xiao sie Hunderte von li flußaufwärts, ohne daß sie auch nur einen einzigen Ruderschlag zu tun brauchten.«
Höflich sagte ich: »Verzeiht, daß ich das bezweifle, Magistrat Fung. Aber ich stamme selbst aus einer Stadt am Meer und habe in meinem Leben schon manche Flut erlebt. Dabei hebt sich der Wasserspiegel vielleicht um soviel, wie man mit ausgestreckten Armen greifen kann. Dies hier aber war ein ganzer Wasserberg.«
Woraufhin wieder er höflich sagte: »Verzeiht, daß ich Euch widerspreche, Kuan Polo. Dann kann ich nur davon ausgehen, daß Eure Heimatstadt an einem kleinen Meer liegt.«
Verschnupft sagte ich: »Für meine Begriffe ist es nie klein gewesen. Aber ich gebe zu, es gibt größere Meere. Hinter den Säulen des Herkules erstreckt sich das grenzenlose Meer des Atlantischen Ozeans.«
»Nun, auch dieses Meer hier ist grenzenlos. Weit von diesen Gestaden entfernt liegen Inseln. Viele Inseln sogar. Im Nordosten zum Beispiel die Jihpen-kwe genannten Inseln, die das Reich der Zwerge ausmachen. Doch braucht man nur lange genug weiter nach Osten zu segeln, und die Inseln werden weniger und immer spärlicher, bis man sie hinter sich hat. Und trotzdem dehnt sich weiter und immer weiter das Kithai-Meer.«
»Wie unser Ozean«, murmelte ich. »Kein Seemann hat es je überquert oder kennt sein Ende oder weiß, was dort liegt, oder ob es überhaupt ein Ende hat.«
»Nun, dieses Meer hat eines«, sagte Fung sachlich. »Zumindest gibt es eine Aufzeichnung darüber, daß es überquert worden ist. Hang-zho trennt jetzt dies zweihundert li tiefe Delta vom Ozean. Aber seht Ihr diese Steine?« Er zeigte auf die Rundsteine, welche den Hauptteil der Balustrade ausmachten. »Das sind die Anker für mächtige, seegängige Schiffe und die Gegengewichte für die Mastbaumenden derselben. Das heißt, waren es dermaleinst.«
»Dann muß Hang-zho einmal ein Seehafen gewesen sein«, sagte ich. »Und zwar ein sehr belebter. Doch muß das Delta, nehme ich an, schon vor langer Zeit von Sickerstoffen versperrt worden sein.«
»Jawohl, vor nahezu achthundert Jahren. In den Archiven der Stadt findet sich ein Tagebuch, verfaßt von einem gewissen Huichen, einem buddhistischen trapa, das nach unserer Zeit
rechnung ungefähr aus dem Jahre dreitausendeinhundert datiert. In diesem Schriftstück berichtet er, er habe sich an Bord einer Hochsee-chuang befunden, die das Unglück hatte, von einem tai-feng -dem großen Sturm -von diesen Küsten fortgetrieben zu werden, und immer weiter nach Osten fuhr. Irgendwann einmal stieß die chuan auf Land. Nach Schätzungen des trapa betrug die Entfernung bis dorthin über einundzwanzigtausend li. Nichts als Wasser bis dorthin. Und dann wieder einundzwanzigtausend li zurück bis hierher. Auf jeden Fall ist er aber von
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