Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
Ana. Genau in der Mitte. Sie hätte das Zentrum nicht besser treffen können, wenn sie es gesucht hätte.
Sie wartete auf jemanden, ihr Blick schweifte in alle Richtungen, glitt über Körper, Beine, Schritte. Sehnsüchtig erwartete sie denjenigen, mit dem sie verabredet war. Und ich konnte von meinem siebten Stock aus die Augen nicht von ihr abwenden. Etwas an ihrer Art zu warten faszinierte mich. Dabei bin ich, wie gesagt, eigentlich niemand, der sich so einfach verliebt; tatsächlich war ich es noch nie.
Ich glaube wenig an die Liebe und dafür sehr an den Sex. Doch dieses Mädchen hatte eine so ungewöhnliche Art zu warten, dazustehen, sich zu bewegen, sich suchend umzusehen, dass sie ein völlig neues Gefühl in mir weckte. Vielleicht bauschte ich das Ganze aber auch ein wenig auf.
Jedenfalls stand ich also zu frühmorgendlicher Stunde barfuß auf meiner Terrasse, die unheimliche Spritze einen Millimeter von meiner Haut entfernt. Ihr Anblick erschien mir wie ein ekstatischer Nebeneffekt des Medikaments.
Da stimmten ein Akkordeonspieler und ein Gitarrist ein Jazzstück an. Und ein vielleicht gerade fünfzehnjähriger Junge mit pomadisiertem Haar sang dazu mit einer so altmodischen Stimme, dass es wirkte, als würde ein Grammophon spielen.
All das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn meine Mutter diese Art von Jazz nicht so geliebt hätte. Sie hörte ihn immerzu, als ich klein war. Ich habe mit den Großen des Jazz gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen. Parker, Rollins und Ellington bildeten den Soundtrack meiner Kindheit. Meine Mutter sang immer irgendeines ihrer Stücke leise vor sich hin. Niemals laut, aus voller Brust. Sie zog das Trällern und Wispern vor.
»Im Leben ist nicht viel Raum fürs Wispern«, sagte sie zu mir. »Mir waren bislang zwischen drei und sechs Minuten des Wisperns zugedacht. Kurze Sätze, ausgesprochen von Männern in flüchtigen Momenten: ›Ich liebe dich … Ich werde dich nie vergessen … Mehr … mehr …‹ Dabei ist Wispern etwas so Mächtiges, dass man es eigentlich im Bett verbieten sollte. Dort lügen alle, ausnahmslos alle. Wispere nie im Bett, erst recht nicht, wenn du mit jemandem schläfst«, sagte sie einmal in einem Taxi auf dem Weg zum Flughafen von Peking zu mir.
Tja, ich glaube, es ist an der Zeit, es euch zu sagen: Meine Mutter redete über Sex. Zu meinem Glück wurde mit mir von meinem 13 . Lebensjahr an über etwas gesprochen, was die meisten Eltern am liebsten stillschweigend übergehen.
Anfangs nervte es mich. Kein Dreizehnjähriger hat Lust, mit seiner Mutter über irgendwas und erst recht nicht über Sex zu reden. Aber meine Mutter war immer sehr liberal. Allerdings mag ich das Wort liberal nicht besonders, sie auch nicht. Sie betrachtete sich als »frei«. Sie bezeichnete sich selbst und andere, die sie bewunderte, als »freie Menschen«. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, frei zu sein.
Ich erinnere mich an ein Hotel, in dem wir einmal wohnten, als ich vierzehn war. Es war ein Wolkenkratzer, unser Zimmer befand sich im 112 . Stockwerk. Nie zuvor war ich in einem Wolkenkratzer gewesen, ein unglaubliches Gefühl, wirklich fast, als wäre man im Himmel. Es war eine seltsame und eindrückliche Erfahrung, leider verblasste sie im Laufe der vielen Hotels und Wolkenkratzer, in die ich in meinem Leben kam.
Wenn ich deshalb im Flugzeug jemanden entdecke, der offensichtlich zum ersten Mal fliegt, lasse ich ihn nicht aus den Augen. Ich beobachte sein Vergnügen, wenn wir starten, die Flughöhe von 11 000 Metern erreichen, seine leichte Panik bei der Landung. Ich versuche, etwas von seiner Begeisterung, seinen Ängsten, seinem ersten Mal abzubekommen. Ja, ich gestehe es, ich sauge solche ersten Eindrücke in mich auf wie ein Vampir.
In jenem ersten Hotel in New York war nur noch ein Doppelzimmer frei. Ich war fast fünfzehn und hatte keinerlei Lust, das Bett mit meiner Mutter zu teilen, es war mir peinlich. Das sagte ich ihr auch. Worauf sie mich ansah, wie nur sie es konnte. Sie musste nur zehn Sekunden lang ihren Blick auf mich richten, ein wenig den Mund verziehen, und schon war ich ganz klein.
»Du willst also nicht mit mir in einem Bett schlafen?« Sie verzog den Mund, und ich schluckte.
»Ich bin fast fünfzehn, Mama.«
»Ich war auch fünfzehn, als ich das erste Mal mit dir schlafen musste. Und das tat ich monatelang, trotz aller Übelkeit und Fußtritte, die du mir versetzt hast. Aber wenn es dir lieber ist, kannst du auf dem
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