Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
Stuhl schlafen. Wir sind freie Menschen, jeder entscheidet für sich.«
Ich war um eine Antwort verlegen. Sie legte eine ihrer alten Jazzplatten auf und rauchte eine Zigarette. Sie wollte mich aber auch gar nicht zu einer Reaktion veranlassen. Ihrer Meinung nach durfte man die Menschen zu nichts zwingen oder überzeugen.
Und so legte ich mich neben sie ins Bett. Ich hörte ihre Musik und roch ihre Zigaretten. Dank ihr habe ich mich immer als ein ganz besonderer Jugendlicher gefühlt.
Und genau dieses Lied aus jener ersten Wolkenkratzernacht mit meiner Mutter stieg jetzt in der Nacht, die meinem Schlafen ein Ende bereiten sollte, von der Plaza Santa Ana zu meiner Terrasse auf. Der Junge mit der Pomade im Haar sang es so jazzig, dass ich das Gefühl hatte, meine Mutter säße neben mir. Vielleicht war es ein Zeichen, möglich, irgendeine Bedeutung hatte es jedenfalls.
Sie wartete noch immer. Ihr passiv-aktives Gesicht hielt mich im Bann. Und sie hatte mich nicht einmal bemerkt, spürte nicht, dass mein Blick keine Sekunde von ihr abließ, wusste nichts von ihm, meiner Präsenz, meinem Herzschlag.
Und so, wie sie sich mitten auf den Platz gestellt hatte, ging sie wieder. Langsam schritt sie auf das Teatro Español zu, den Blick auf das Plakat von Tod eines Handlungsreisenden gerichtet, Arthur Millers wundervollem Theaterstück, das dort gerade auf dem Spielplan stand.
Plötzlich verloren ihre Schritte alles Zögerliche, und entschlossen marschierte sie auf den Eingang des Theaters zu.
Ich malte mir aus, was geschehen sein mochte. Sie wartete auf jemanden, der nicht kam, das Stück konnte jeden Moment beginnen, sie hatte einen Entschluss gefasst.
Wenn man um drei Uhr morgens versetzt wird, aber gern ins Theater gehen möchte, muss man eine Entscheidung treffen. Ich nehme an, ihr Stolz hat in diesem Augenblick ihre Traurigkeit besiegt.
Rasch betrat sie das Theater. Mir war, als könnte ich noch den Einlasser ihre Karte abreißen und den Platzanweiser ihr zuflüstern hören: »Reihe sechs, Platz fünfzehn, folgen Sie mir bitte.«
Sie verschwand aus meiner Welt, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Dass sie das Theater allein betreten hatte, fand ich großartig. Meine Mutter hat mir immer gesagt, man dürfe sich von niemandem demoralisieren lassen. Von niemandem. Niemals!
Doch gleichzeitig war es schmerzhaft, das Mädchen nicht mehr auf dem Platz zu sehen. Als würde mir etwas fehlen. Es ist ganz schrecklich und unheimlich, jemanden zu vermissen, den man noch nicht einmal kennt.
Das Klingeln meines Telefons brachte mich in die Realität zurück. Es musste etwas Ernstes sein, den tiefen, unterbrochenen Klingeltönen nach zu schließen. Ich war immer überzeugt, dass diese Apparate eine eigene Intelligenz besitzen und wissen, wann sie schlechte Nachrichten überbringen, worauf sie uns mit einem entsprechenden Klingeln vorzubereiten versuchen.
Nach dem sechsten Klingeln nahm ich ab.
Ich verließ die Terrasse, als kehrte ich meinem Schicksal den Rücken. Der Geruch des Parketts versetzte mich in meine alltägliche Welt zurück. Der Anblick meines Wohnzimmers ließ mich für einen Augenblick alles vergessen, was ich in den letzten Minuten dort draußen erlebt hatte.
»Ja?« Ich bin am Telefon gern knapp.
»Du musst sofort kommen, etwas ganz Unglaubliches ist geschehen«, sagte mein Chef in einem gereizten Tonfall, der auf einen äußersten Ernstfall hindeutete.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Hast du nichts mitbekommen?«
»Nein, ich habe … geschlafen.«
»Dann stell die Nachrichten an, du wirst schon sehen. Die Presse hat vor zehn Minuten davon erfahren. Komm schnell, du wirst hier gebraucht.«
Mein Chef gehörte zu denen, die nicht mehr schliefen. Seine Stimme hörte sich zu frisch an für gerade mal drei Uhr morgens. Alle, die nicht mehr schliefen, klangen zu jeder Tages- und Nachtzeit, als wäre es zehn Uhr vormittags. Es fühlte sich dämlich an, ihm einzugestehen, dass ich geschlafen hatte.
Ich stellte den Fernseher an. Alles hätte ich erwartet, nur das nicht. Es war so unglaublich, wie mein Chef gesagt hatte. Ich schaltete zwischen den Kanälen herum, doch er hatte nicht übertrieben.
Die Titelzeile der Nachrichten im Ersten war so umwerfend, dass sie keines weiteren Kommentars bedurfte: »Ankunft des ersten Außerirdischen auf dem Planeten Erde bestätigt.«
Die Schlagzeilen der anderen Kanäle wichen einzig im Wortlaut ein wenig ab, doch überall wurde der Außerirdische erwähnt. Fotos
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