Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
wahrnehmen, es ist wie ein Raunen, in dem das Spiel der Schauspieler, das Seufzen der Zuschauer und die behutsamen Bewegungen der Bühnentechniker enthalten sind.
Es ist das Geräusch meiner Kindheit, denn ich wuchs in zahllosen Theatern in Hunderten von Ländern auf. Meine Mutter war eine Theaterfrau. Allerdings würde sie mich umbringen, könnte sie das hören, denn eigentlich war sie eine Tänzerin.
»Wohin?«
»Nach Torrejón. Block E.«
»Im Ernst?« Das Herz des Taxifahrers pochte jetzt vermutlich im Takt mit seinem Taxameter. Er war richtig aufgeregt, wahrscheinlich bekam er einen halben Orgasmus bei dem Gedanken, was ihm die lange Strecke nach Torrejón einbringen würde.
»Im Ernst. Und könnten Sie bitte die Klimaanlage ausschalten, ich mache lieber das Fenster auf.«
Er kam meiner Bitte ohne Widerrede nach und fuhr los. Und ich ließ auf dem Platz das Mädchen zurück, das mich so berührt hatte. Ich schloss die Augen, um Müdigkeit vorzutäuschen und dem Taxifahrer zu signalisieren, dass ich nicht reden wollte. Die ersten fünf Minuten in einem Taxi sind entscheidend. Ich spürte, dass er mich im Rückspiegel beobachtete. Dann stellte er das Radio an und beachtete mich nicht weiter.
Ich hielt die Augen noch eine Weile geschlossen und dachte daran, dass ich in wenigen Minuten »von Angesicht zu Angesicht« diesem Außerirdischen begegnen würde, der die ganze Welt so in Bann hielt.
6
Der Tanz der Speiseröhre
N ach und nach, viele Kilometer von meiner Wohnung entfernt, öffnete ich langsam wieder die Augen. Es war das erste Mal, dass ich das Haus verließ, seit ich vom Tod meiner Mutter erfahren hatte. Die Bank befand sich im selben Gebäude, das zählte nicht.
Ringsum war alles beim Alten. Menschen schlenderten umher, Autos kurvten hektisch durch die Gegend, die Nacht pulsierte wie sonst auch.
Wer muss sterben, damit die Welt stehenbleibt, unsere tägliche Routine, alles ins Stocken gerät? Welcher Mensch ist so wichtig?
Während wir uns in dem sonntäglich dichten Frühverkehr vorwärtsschoben, ließ ich das Leben mit meiner Mutter Revue passieren. Sie hätte mich gern kreativ tätig gesehen, das musste sie mir nicht erst sagen.
Als Erstes hat sie mich in den Tanz eingeführt. Ich sah immer gern zu, wie die Tänzer und Tänzerinnen ihre Choreographien ausführten. Sie war streng mit ihnen, sie hat sie nicht wie ihre Kinder, nicht einmal wie ihre Freunde behandelt. Ich glaube, für sie waren sie einfach nur Instrumente zur Verwirklichung ihrer Ziele. Dienstleister, die ihre Grundbedürfnisse erfüllten.
Wie soll ich euch ihren Tanzstil beschreiben … Es waren ungewöhnliche Choreographien, voller Licht und Leben. Sie verabscheute alles Klassische. Im Tanz wie im Leben.
»Was ist Tanzen?«, fragte ich sie einmal an einem kalten Wintertag in Poznan, wo die Temperatur nie über – 5 ° Celsius stieg.
»Hast du Zeit, die Antwort anzuhören, Marcos?«, antwortete sie unterkühlt.
Ich hasste es, dass sie immer so tat, als ob ich mit meinen vierzehn Jahren noch nicht in der Lage wäre, Zusammenhänge aus der Erwachsenenwelt zu begreifen, dass sie mir auf jede Frage mit dieser Gegenfrage antwortete. Als wäre ich ein unkonzentriertes kleines Kind, dessen Interesse keine zwei Sekunden anhielt.
»Aber klar«, sagte ich gekränkt.
»Tanzen ist eine Form, auszudrücken, was unsere Speiseröhre empfindet«, erklärte sie.
Wie man sich vorstellen kann, verstand ich nur Bahnhof.
Zur Erläuterung: Für meine Mutter war das Herz ein vollkommen überbewertetes Organ. Liebe, Leidenschaft und Schmerz, alles wurde allein dieser kleinen roten Verdrängungspumpe zugeschrieben. Das störte meine Mutter über alle Maßen, weshalb sie irgendwann, ich glaube, noch vor meiner Geburt, beschloss, die Speiseröhre zum Sitz der künstlerischen Vitalität zu erklären. Gestaltet wurde diese Vitalität durch den Tanz; die Malerei verlieh ihr Farben, das Kino Bewegung und das Theater Sprache.
»Sollen wir die M- 30 oder die M- 40 nehmen?«, fragte der Taxifahrer und holte mich mit dieser höchst irdischen Frage in die Realität zurück.
»Das ist mir gleich«, sagte ich, woraufhin jeder von uns in seine Welt zurückkehrte.
Mit sechzehn Jahren wechselte ich zum Malen über. Ich hörte mit dem Tanzen auf, weil es die Welt meiner Mutter war. Niemals wäre ich darin besonders weit gekommen, ich hatte nicht den Bruchteil ihres Talents. Hätte der Sohn von Humphrey Bogart oder Elizabeth Taylor vielleicht in die
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