Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
gelesen. Ich bemerkte ein paar Fotos, die er mir nicht gezeigt hatte, und wollte sie schon umdrehen, da sagte er:
»Schau die nicht an.«
»Warum nicht?«
»Sie wurden bei anderen Verhören gemacht.«
Ich zögerte, griff schließlich aber doch danach.
Es war entsetzlich, was darauf zu sehen war. Sie hatten abartige Methoden bei diesem liebenswerten Jungen angewandt! Unvorstellbare Quälereien! »Das ist …« Mir versagte die Stimme. »Und trotz allem hat er nichts gesagt?«
»Nichts.«
Ich legte die Fotos wieder auf den Tisch. Lange konnte man ihren Anblick nicht ertragen. Mein Chef drehte sie wieder um.
»Was habt ihr jetzt vor?«, fragte ich.
»Schwierig«, antwortete mein Chef und steckte die Dokumente ungeordnet wieder in den Safe.
»Aber die Presse wird ihn sehen wollen.«
»Ich weiß.«
Er setzte sich auf einen Stuhl und schenkte sich einen Whisky ein. Ich ahnte, dass er mir nicht alles gesagt hatte.
»Was ist?«, fragte ich.
»Sie wollen ihn aufschneiden. Eine Autopsie machen.«
»Im Ernst? Aber wenn sie doch nicht sicher sind, dass …«
»Ebendeshalb. Viele glauben, dass der Fremdling tatsächlich einer ist. Die Knochenanalyse ist für sie der Beweis. Andere sind der Ansicht, es könnte sich auch um eine Fehlbildung der Knochen handeln.«
»Und deshalb hast du mich gerufen?«, fragte ich. »Hätte ich gesehen, dass er nicht von hier ist, dann …«
»Dann hätten sie ihn ohne weitere Umstände zersägt.«
Ich war außer mir.
»Du hast mich gerufen, um …«
Verärgert unterbrach mich mein Chef.
»Ich habe dich nicht gerufen. Das wollten meine Vorgesetzten. Sie wissen von deinen Erfolgen und wollten einen weiteren Beweis, um ihn …«
Ich fiel ihm ins Wort.
»Zu töten.«
Seine Miene pflichtete mir bei. Ich weiß, dass ihm nicht gefiel, was er mir da erzählte, er war ein anständiger Mensch.
»Sie sind der Meinung, dass er uns lebendig nichts weiter sagen wird, tot aber dafür sehr viel«, ergänzte er. »Nur die Presse macht ihnen Angst, allein wegen ihr wurde der Fremdling noch nicht in seine Einzelteile zersägt.«
Da sah ich plötzlich ein Bild vor mir, eine neue Erinnerung, die sich blitzartig vor mir aufbaute. Ich hatte meine Gabe noch aktiviert. Es war eine Erinnerung meines Chefs.
Ich sah ihn in einer Telefonzelle, er rief jemanden an und erzählte ihm von dem Fremdling. Es war eine mutige Tat, die ihn mit Glück erfüllte, sicherlich ersetzte sie eine der zwölf Emotionen, die ich in ihm gesehen hatte. Die Anordnung verändert sich im Zuge der wichtigen oder dramatischen Ereignisse im Leben eines Menschen. Und das hier war eine entscheidende Handlung für ihn gewesen.
»Was ist mit dir?«, fragte er verwundert.
»Du hast die Presse informiert.«
Er sah mich an, dann nickte er beschämt.
»Aber es wird nichts nützen«, sagte er, »sie werden ihn trotzdem töten, sie sind fest entschlossen. Und dann werden sie sich irgendeine Geschichte ausdenken und alles dementieren und negieren, was über diesen Jungen veröffentlicht wird.«
Er trank einen Schluck Whisky.
»Glaubst du, er ist einer?«, fragte ich.
»Ein was?«, fragte er.
»Na, ein Fremdling.«
»Er ist ein Junge«, antwortete er. »Ganz gleich, ob er hier oder wo auch immer geboren wurde, niemand verdient es, so behandelt zu werden.«
Es klopfte an der Tür. Mein Chef stand auf, versteckte die Whiskyflasche in einer Schublade und öffnete die Tür.
Es war Dani. Er setzte sich neben mich und schob mir einen Zettel zu, auf dem stand: »Das Stück ist in vierzig Minuten zu Ende, fünf Minuten hin oder her, je nachdem, wie lange der Applaus dauert.«
Dani war in allem immer sehr gewissenhaft. Ich faltete den Zettel wieder zusammen und sah zu meinem Chef.
»Wann wollen sie es tun?«
Dani blickte verwundert von mir zu unserem Chef. Es war, als verfolge er einen Ballwechsel beim Tennis, ohne eine Ahnung zu haben, wie wichtig der Punkt war, um den es ging.
»Bald«, antwortete mein Chef.
»Und wenn ich ihnen sage, dass alles, was ich gesehen habe, völlig normal war, dass er kein Fremdling ist?«, fragte ich.
»Ich glaube, das ist ihnen egal, Marcos. Das ist nicht das, was sie hören wollen. Zerbrich dir nicht weiter den Kopf.«
Er setzte sich wieder, zog die Schublade auf, holte die Whiskyflasche aus der Schublade und trank einen kräftigen Schluck.
Ich war wütend. Wieder sah ich das Bild des Jungen mit seinem Vater vor mir, wie sie sich vor dem roten Regen unterstellten. Ich weiß, dass der
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