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Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Titel: Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Espinosa
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die Liebe«, sagte sie. Das Entscheidende sei es, die Lotstelle zu erkennen. »Du musst Hinweise auf beide Gefühle in den Menschen finden, die dich umgeben, Marcos. Du musst ihrem Verlangen, ihrer Leidenschaft zuvorkommen, ehe sie dir ihre Gefühle eingestehen. Verborgene Sehnsüchte sind die Triebwerke des Lebens«, sagte meine Mutter
    Meine Gabe ermöglichte es mir nie, verborgene Sehnsüchte aufzuspüren. Sie hat mir immer nur reale Situationen gezeigt, ausgelebte Gefühle, nicht platonische.
    Von meiner Mutter habe ich also gelernt, Empfindungen zu unterscheiden. Und als ich Dani kennenlernte, merkte ich, dass die Liebe und das sexuelle Verlangen, das er mir entgegenbrachte, sehr stark waren.
    Es ist mir nach wie vor unbegreiflich, wie diese unkontrollierbar tiefen Gefühle entstehen.
    »Wenn Liebe und Sex zu etwas Unwirklichem werden«, sagte meine Mutter, »kann sich die Freude des Liebenden in Schmerz verwandeln. Auch wenn diese Liebe dir nichts bedeutet, macht es einen Unterschied, ob du sie besitzt oder verlierst. Denn magst du sie auch nicht annehmen, wirst du sie doch für immer verlieren, und das ist entsetzlich.«
    Ich bin mir sicher, dass meine Mutter niemals einen der Menschen verlor, die sie platonisch liebten. Denn auf ihre Weise erwiderte sie ihre Liebe. Ich glaube, das machte sie so stark.
    »Schon gut, du kannst auf mich zählen«, beantwortete Dani meine Bitte. Ich wusste, dass er mir nicht nur half, weil er in mich verliebt war, sondern vor allem, weil er an mich und meinen Instinkt glaubte.
    Mein Chef atmete erleichtert auf. Ohne Danis Beistand wäre ihm wohl alles noch schwieriger vorgekommen.
    »Ich muss schnell ins Teatro Español«, sagte ich. »Ruft mich an, wenn ihr beschlossen habt, wo wir uns treffen, nachdem ihr ihn herausgeholt habt.«
    Mein Chef und Dani sahen mich verdutzt an.
    »Du gehst jetzt ins Theater?«, fragte mein Chef überrascht.
    »Ich muss jemanden abholen«, erklärte ich.
    »Aber …« Mein Chef war völlig vor den Kopf geschlagen.
    »Ich muss, es ist wichtig. Außerdem habe ich keine Ahnung von Fluchtstrategien und wie man ihn hier am besten herausbekommt. Darin seid ihr wesentlich besser, ich weiß, dass es euch gelingen wird.«
    Auch das ist etwas, was mir meine Mutter beigebracht hat: Menschen vertrauen, die nicht dieselben Mängel haben wie man selbst. Das ist die Devise jedes wahren Talents. Allerdings musste sie nie darauf zurückgreifen, weil sie den Tanz in jeder Hinsicht beherrschte.
    Ich stand auf. Sie waren nicht ganz überzeugt, doch ich wusste, dass mein Chef es schaffen würde, den Fremdling hinauszubringen, auch wenn es das Ende seiner beruflichen Laufbahn bedeuten würde. Für Dani stand weniger auf dem Spiel, doch er war auch noch weniger überzeugt. Ich wusste, dass sein Gewissen ihm einen Streich spielen konnte. Ein Gewissen ist etwas ziemlich Riskantes.
    »Geh im dritten Stock beim Sicherheitschef vorbei«, trug mir mein Chef auf.
    »Warum?«, fragte ich.
    »Ich muss etwas gegen ihn in der Hand haben, um ihn unter Druck setzen zu können, sollte etwas schieflaufen. Schau ihn dir mit deiner Gabe an und ruf mich an, wenn du etwas findest.«
    Das gefiel mir nicht. Mein Chef hatte noch nie etwas so Hinterhältiges von mir verlangt. Meine Gabe zu verwenden, um jemanden zu erpressen, war weder mit ihm noch mit meinem Gewissen vereinbar. Ich wusste, dass ich es eigentlich nicht tun sollte, allerdings hätte er eigentlich auch nicht die Presse verständigen und Dani hätte uns nicht helfen dürfen. Wir alle waren im Begriff, uns über die Regeln hinwegzusetzen, weil extreme Situationen eben auch extreme Maßnahmen erfordern.
    »Mache ich«, sagte ich und verließ sein Büro.

12
    Er ist ein Fremdling,
weil er unvorstellbare
Schmerzen aushält

I ch war noch nie im dritten Stock gewesen, bis dahin reicht mein Passierschein normalerweise nicht. Abgesehen davon reizte es mich auch nicht besonders, mehr über diese Abteilung zu erfahren.
    Etwas in mir hoffte, es gäbe keine dunkle Episode im Leben des Sicherheitschefs oder mein Chef möge eine Form finden, den Jungen zu befreien, ohne auf die Information zurückzugreifen, die ich ihm möglicherweise beschaffen würde. Ich respektierte meine Gabe.
    Der Aufzug hielt im dritten Stock. Der Sicherheitschef stand rauchend am Ende des Korridors. Ich kannte ihn nur flüchtig. Er war ein junger Mann um die dreißig, seine Eltern kamen aus Brasilien, aus irgendeinem Grund ging er jedoch als Franzose durch. Ich meine

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