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Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Titel: Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Espinosa
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noch etwas vom früheren Geschäft übrig.« Er lächelte. »Nicht nur der Besitzer.«
    »Und meine Bilder, hast du die auch noch?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. Es schmerzte mich, das zu sehen. Ihm hatte ich die ersten beiden Bilder meiner Trilogie gegeben, Kindheit und Tod. Sie hatten ihm so gut gefallen, als ich sie ihm zeigte, dass ich sie ihm schenkte, in der Annahme, er würde sie nie weggeben. Ich mochte die Art, wie er sie anschaute. Man braucht liebevolle Adoptiveltern für seine Bilder, damit man sich von ihnen trennen kann.
    »Ich habe sie deiner Mutter gegeben«, sagte er. »Sie wünschte sie sich so sehr, dass ich es ihr nicht abschlagen konnte.«
    Ich war sprachlos. Das hatte sie mir nie erzählt. Ich wusste, dass sie meine Bilder mochte, sie gab mir Ratschläge, lobte mich, wenn ihr etwas gefiel, und zeigte sich stets interessiert, doch ich hatte immer den Eindruck, sie hätte sie nicht unbedingt tagein, tagaus sehen wollen. Ganz abgesehen davon, dass sie nie eine feste Bleibe hatte, wo sie sie hätte aufhängen können.
    Ich zog meine Geldbörse hervor, doch er legte seine Hand auf meine und hinderte mich daran, sie zu öffnen. Wieder fühlte ich die Berührung seiner Haut.
    »Das ist ein Geschenk, Marcos«, flüsterte er. »Und hör auf mich, gib das Schlafen nicht auf.«
    Dieses Mal war ich es, der ihn umarmte, was er lächelnd zuließ. Dann ging ich.
    Als ich wieder im Auto saß, fühlte ich mich vollständiger. Ich hatte Leinwände. Ich wusste zwar nicht, ob ich das letzte Bild wirklich malen konnte, aber wie der alte Kanadier gesagt hatte, war es wichtig, alles bereitzuhaben.
    Wir fuhren wieder in Richtung Plaza Santa Ana. In drei Minuten würde das Publikum in seine alltägliche Realität entlassen werden. Der Peruaner gab Gas.

14
    Das Leben ist ein Kommen und Gehen und ein Türgriffe-Drehen.

W ir kamen zwei Minuten vor Ende des Stückes am Teatro Español an. Alle Türen standen weit offen, um die Zuschauer hinauszulassen. Es machte den Eindruck, als würden sie ungeduldig vibrieren.
    Ich stieg aus dem Auto, der Peruaner parkte an einer Ecke neben einer Caféterrasse. Ich stellte mich neben den Haupteingang. Ein Stück weiter stand ein junger Typ um die dreißig mit Sonnenbrille. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde er mich beobachten, aber das kam wohl daher, am selben Tag einem Fremdling und einem als Sicherheitschef kaschierten Päderasten begegnet zu sein.
    Der Typ mit der Sonnenbrille blickte auch zur Theatertür. Fast noch ungeduldiger als ich.
    Man hörte gedämpft die Stimmen der Schauspieler auf der Bühne. Meine Mutter sagte immer, der finale Laut eines Theaterstückes setze sich aus allen Worten zusammen, die von der ersten Sekunde an gesprochen worden seien. Wie eine Pyramide. Man könne den letzten Stein nur kunstvoll setzen, wenn die Basis standhalte. Sie zeigte mir auch die Ausmaße der Stille, die man im Theater richtiggehend messen konnte. Oft zeigte sie sie mir von der letzten Reihe aus.
    Da gab es die zwei Zentimeter messende Stille, die auf leidenschaftslose Aufmerksamkeit hindeutete. Dann gab es die vierzig Zentimeter messende Stille, die den Schauspieler durchdringt und die ganze Magie des Theaters erspüren lässt. Das ging bis zur neunundneunzig Zentimeter messenden Stille. Sie ist so strahlend wie das breiteste Lächeln aller Zuschauer zusammen. Sie klingt nach, man hört sie, lebt sie, fühlt sie. Sie bedeutet, dass der Zuschauer alles andere um sich herum vergessen hat, sein Gehirn keine Signale der Besorgnis wegen irgendwelcher persönlichen Probleme aussendet. Darum ist diese Stille die tiefste. Dem Denken eine Pause gewähren. An diesem Abend spürte ich die vierunddreißig Zentimeter messende Stille. Angewohnheiten meiner Mutter, die ich verinnerlicht hatte.
    Als mir das Warten lang wurde, beschloss ich, ins Theater zu gehen, um herauszufinden, ob die Stille drinnen tiefer war. Und natürlich, um das Mädchen zu sehen.
    An den Türen standen keine Aufseher. Theater sind dafür ausgerüstet, den Einlass nach Beginn und bis fünfzehn Minuten vor Schluss zu verwehren. Dann soll das Verlassen des Saals so reibungslos wie möglich geschehen, niemand wird mehr daran gehindert, hineinzugehen.
    Ich trat durch den Haupteingang ins Vestibül. Keine Menschenseele weit und breit. Ich steuerte auf die Tür zum Parkett zu.
    Seltsamerweise war die Klinke identisch mit der an der Tür zu dem Raum, in dem der Fremdling festgehalten wurde. Und obwohl ich wusste,

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