Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
dass er in etwas völlig anderes führte, war ich doch etwas befangen, als ich ihn drehte. Man weiß nie, was einen hinter einer Tür erwartet. Vielleicht besteht das Leben eben auch darin, ab und an Türgriffe zu drehen.
Ich drehte ihn. Die Stille, die hier zweiundvierzig Zentimeter maß, durchdrang mich augenblicklich. Der beste Freund des Handlungsreisenden hielt gerade seinen abschließenden Monolog auf der Beerdigung.
»Niemand erhebe einen Vorwurf gegen diesen Mann. Versteht ihr nicht, dass Willy ein Handlungsreisender war. Und ein Handlungsreisender hat nie festen Boden unter den Füßen. Er fügt kein Brett in Nut und Feder, er spricht kein Recht und verschreibt keine Arznei. Er ist allein da draußen im Nichts, und sein Lächeln und seine blankgeputzten Schuhe sind seine einzigen Waffen.«
Es war so packend, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich kannte das Stück gut, meine Mutter hatte eine Tanzversion daraus gemacht. In der Choreographie meiner Mutter tänzelte Charley, während er seinen Monolog sprach, auf dem Sarg. Sparsame Bewegungen, die seinen unterdrückten Zorn verrieten.
Das Stück neigte sich dem Ende zu, und ich hielt nach dem Mädchen Ausschau, ließ meinen Blick über die vielen Nacken schweifen. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, ich würde ihren erkennen.
Doch ich konnte ihn nicht entdecken, was mich auf den Gedanken brachte, sie sei womöglich früher gegangen, aus Enttäuschung darüber, dass man sie versetzt hatte. Denn zwischen dem Impuls, ein Theater zu betreten, und dem Entschluss, darin zu bleiben, liegen Welten. Vielleicht hatte das Stück ihr auch nichts gesagt. Manche finden Tod eines Handlungsreisenden altmodisch, können damit nichts anfangen.
Doch im selben Augenblick zerstreute ich meine Zweifel wieder. Eine innere Stimme sagte mir, dass sie niemand war, der ein Theater einfach verlässt. Für meine Mutter gehörte es zu den unverzeihlichen Todsünden, mitten in der Vorstellung zu gehen. Es mache Schauspieler oder Tänzer so traurig, dass sie mindestens fünf Minuten brauchten, bis sie sich wieder gesammelt hätten. Das Publikum selbst brauche doppelt so lange.
Da erklang in den Monolog der Frau des Handlungsreisenden hinein das Bellen meines Handys (ich habe keinen Hund, aber ich hätte immer gern einen gehabt, deshalb bellt mein Telefon eingehende Telefonate liebevoll an). Alle drehten sich nach mir um. Ich hatte die zweite von meiner Mutter zutiefst verhasste Todsünde begangen, allein entschuldbar durch die Krankheit eines Angehörigen oder die Geburt des ersten Kindes. Die des zweiten zählte für sie schon nicht mehr zu den mildernden Umständen.
Aus den Nacken der Zuschauer wurden Gesichter, deren Augen im Halbdunkel verschwammen.
Und da sah ich sie, in der sechsten Reihe links. Sie erkannte mich nicht. Ja, ich weiß, sie kannte mich ja gar nicht. Aber ich hätte mir so gewünscht, von ihr erkannt zu werden.
Als ich den Anruf meines Chefs endlich zum Verstummen gebracht hatte, drehten sich die glanzlosen Augen wieder der Bühne zu. Nur ihre brauchten zwei Sekunden länger, um zum Monolog der Witwe zurückzukehren. Und als sie mich anblickte, merkte ich, dass ich meine Gabe noch aktiviert hatte. Ich stellte sie ab, doch ein Bild erreichte mich trotzdem.
Das Mädchen und ein Hund. Viele Hunde. Es waren ihre Lieblingstiere. Sie traute ihnen mehr als jedem Menschen. Ich sah sie mit sechs Jahren einen Hund streicheln, ich glaube, er hieß Walter. Sie war in dieser Erinnerung glücklich, vollkommen glücklich. Ich weiß nicht, wo auf der Skala diese Emotion angesiedelt war, aber sie bezauberte mich.
Trotzdem war es mir unangenehm, ihr dieses Gefühl geraubt zu haben. Langsam ging ich auf ihre Reihe zu. Der Platz neben ihr war frei. Sie war also wirklich versetzt worden.
Ich setzte mich neben sie. Sie war so auf das Stück konzentriert, dass sie meine Anwesenheit anscheinend gar nicht wahrnahm. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln und stellte fest, dass mir ihr Gesicht in seinem gespannten Zuhören ebenso gut gefiel wie vorhin auf dem Platz. Ich war im Begriff, mich in jeden einzelnen ihrer Züge zu verlieben, in jeden ihrer Blicke, auch wenn sie meine gerade nicht trafen.
Dann achtete ich wieder auf das Stück. Die letzten drei Minuten kannte ich in- und auswendig. Ich hatte über fünfzigmal die Version meiner Mutter gesehen, war allerdings meist erst kurz vor Ende der Vorstellung gekommen, um mir den Schluss zu Gemüte zu führen. Der letzte Satz ist einfach
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