Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
genial: »Wir sind frei … Wir sind frei …«
Je näher wir dem Ende kamen, desto gemeinsamer atmeten wir. Wir atmeten mit der gleichen Emotion, dem gleichen Geräusch, nahmen die gleiche Menge Luft in uns auf, weil wir beide gleichermaßen von dem Stück ergriffen waren. Ohne uns anzublicken, stimmten wir uns zu den Worten des Schlussmonologs unmerklich aufeinander ein.
Es fühlte sich an wie der Beginn einer Beziehung. Als käme die Tatsache, die einzigen beiden Menschen im Theater zu sein, die auf diese Weise miteinander atmeten, einem ersten Kuss gleich, einer ersten Liebkosung, dem ersten sinnlichen Beisammensein, beinahe schon Liebesakt. Und das sage ich nicht so dahin, denn je stärker ich es fühlte, desto heftiger ging mein Atem, und ihrer mit.
Doch bevor daraus mehr werden konnte, war das Stück zu Ende, und Applaus brandete auf, hielt beinahe fünf Minuten ununterbrochen an. Unsere Hände klatschten im Takt. Unsere Herzen und unsere Speiseröhren pochten zusammen. Aber vielleicht bildete ich mir das alles auch nur ein.
Unvermittelt brach der letzte Applaus ab, das Publikum erhob sich. Sie blieb sitzen; ich auch. Unsere Nachbarn verließen die Reihe auf der anderen Seite, so wenig zeigten wir uns zur geringsten Regung gewillt.
Der Saal leerte sich zusehends. Sie war weiterhin ganz im Bann dessen, was sie soeben auf der Bühne gesehen hatte, und ich tat so, als ginge es mir ebenso. Doch jeden Moment konnte sie aufstehen oder würden uns die Platzanweiser hinausschicken. Ich zerbrach mir vergeblich den Kopf über den idealen Satz, um sie anzusprechen. Ich wollte mir nicht mit Hunden behelfen, das schien mir moralisch verwerflich.
Da entdeckte ich, dass sie ihren Blick nicht gesenkt hielt, weil sie dem Theaterstück nachhing, sondern weil sie auf eine SMS starrte, die sie wohl ein ums andere Mal las.
Meine Mutter fand, eine SMS drücke viel Wahrheit mit wenig Worten aus. Die Leute übermittelten ihre Gefühle, hielten sich aber schön knapp, damit es nicht zu teuer würde. Sie speicherte viele der SMS , die sie bekam, schrieb sie allerdings niemals auf oder übertrug sie auf andere Datenträger. In einer anderen Form hätten sie für sie ihren Zauber verloren. Manche der Textnachrichten, die sie aufhob, waren über zehn Jahre alt. Sie sagte, das seien die, aus denen tiefster Schmerz, echte Leidenschaft oder reiner Sex sprach. Denn im Grunde sei das Wort SMS die Abkürzung für »Sex, mehr Sex«. Sie war sich sicher, dass jeder in seinem Handy irgendeine erotische Botschaft gespeichert hatte. Nur wisse bei manchen nur der Empfänger, dass es sich um eine solche handele, für jeden anderen sei sie verdeckt, da man wissen müsse, wann derjenige sie empfangen und was sich vorher mit welcher Intensität abgespielt hatte. Sie sagte, grandiose Textnachrichten seien der perfekte Epilog einer gelungenen Verabredung. Wenn man, wenige Minuten nachdem man auseinandergegangen war, eine SMS von dem anderen erhielt, die die eigenen Empfindungen bestätigte. Manchmal sei die SMS sogar wichtiger als die Verabredung selbst.
Seit einiger Zeit hob ich auch Nachrichten in meinem Handy auf, darunter eine ziemlich erotische, was allerdings, genau wie meine Mutter sagte, niemand vermutet hätte. Sie lautete nur: »Kommst du?« Ein Mädchen hatte sie mir geschickt, als ich gerade mitten in einer Beziehung steckte. Trotzdem hatte die SMS mich ziemlich angeturnt. Über Wochen las ich sie wieder und wieder und ließ mich von ihr anturnen. Zu ihr gegangen bin ich allerdings nie, vielleicht hatte ich die SMS deshalb noch gespeichert und turnte sie mich immer noch an.
Ich hatte auch noch eine, die meine Mutter mir bei meiner ersten Reise ohne sie geschickt hatte. Sie lautete: »Verlier dich nicht, Marcos, du entscheidest, wo die Welt ihre Grenzen hat.«
Tatsächlich begrenzte ich jedoch meine Welt im Laufe der Zeit mehr und mehr: das Teatro Español, die Plaza Santa Ana, die paar Gassen ringsum.
Plötzlich wandte sich das Mädchen mir zu und sprach mich an.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
Das war unglaublich! Manchmal löst das Leben alle Probleme, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.
»Klar, klar«, antwortete ich in einer extrem nervösen Doppelung.
»Eigentlich war ich mit meinem Freund fürs Theater verabredet, aber er ist nicht gekommen; jetzt wartet er draußen auf mich, er soll aber nicht wissen, dass ich allein reingegangen bin. Könntest du deshalb vielleicht so tun, als ob …«, bat sie mich etwas
Weitere Kostenlose Bücher