Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
grauenerregend. Sein Leben war voller Bosheit. Seine schrecklichste Erinnerung war ein kaltblütiger Mord an einem Häftling in einer Zelle in einem feuchten Untergeschoss. Ich konnte jedoch nicht das Gesicht des Opfers ausmachen, noch konnte ich sehen, wann oder wo das Ganze sich zugetragen hatte. Ich sah nur die Erniedrigung, große Schmerzen und Schreie. Dennoch war ich nicht sicher, ob es ein Verbrechen darstellte, das der Chef gegen ihn verwenden könnte. Vielleicht war es sogar legal gewesen.
Das andere Extrem war seine Leidenschaft fürs Schießen. Doch sie hatte nichts mit dem Glück zu tun, das mein Chef mit seinem Bogen ausstrahlte. Der Sicherheitschef schoss mit Vorliebe auf Tiere, vor allem von hinten. Das war sein sonderbares Konzept von Glück.
Unter den positiven zusätzlichen Emotionen entdeckte ich zwei Beziehungen zu Frauen, die er beide vor vielen Jahren bis zum Wahnsinn geliebt hatte, ehe sie ihn verlassen hatten.
An fünfter Stelle stieß ich schließlich auf die Erinnerung, die mein Chef benötigte. Etwas, was die Leute sicherlich nicht über ihn erfahren sollten. Und wie immer war diese Erinnerung weder dem einen noch dem anderen Extrem zuzuordnen. Die Extreme sind zu nichts nütze, das Entscheidende ist immer im großen Haufen verborgen, an fünfter oder sechster Stelle.
Ich wandte mich ab. Für ihn waren nur ein paar Sekunden vergangen, ehe ich mich umdrehte und ihn mit seinen Zigaretten sich selbst überließ. Doch in diesen paar Sekunden hatte sich sein gesamtes Leben vor mir abgespult.
Ich fuhr im Aufzug in die Garage hinunter und sah auf die Uhr. Es war zu spät, um ein Taxi zu rufen, und so fragte ich meinen peruanischen Freund, ob er mich ins Teatro Español fahren könnte, was er bereitwillig tat.
Im Auto empfing mich ein Lied der Cranberries. Die Zähne des Peruaners blitzten. Mir wurde klar, dass in dem Gebäude etwas mit mir geschehen war; ich war nicht mehr der, der eine Weile zuvor in ebendiesem Auto gesessen hatte. Es ist unglaublich, wie unvermutet das Leben eine so radikale Wendung nehmen kann. Wobei meine Mutter immer sagte, jede Bühnenaufführung verändere unser Leben von Grund auf.
»Und, ist er ein Außerirdischer?«, fragte der Peruaner, kaum dass wir den Komplex verlassen hatten.
»Ja«, antwortete ich.
Zum ersten Mal gab ich es zu, und tatsächlich war ich davon überzeugt. Außerdem wurde mir bewusst, dass ich gerade, ebenfalls zum ersten Mal, den Rat eines Wesens von einem anderen Planeten befolgte. Ich wusste nicht, ob er hinsichtlich des Mädchens recht gehabt hatte, aber ich wusste, dass ich es herausfinden musste.
Meine Mutter war der Meinung, was Liebe und Sex betraf, sei jeder Rat wertvoll, auch wenn sie es ein wenig anders ausdrückte:
»Liebe und Sex sind etwas so Fremdartiges, dass jeder x-beliebige Fremde den Schlüssel dazu besitzen kann.«
13
Ohne Leinwände träumen,
ohne Farben malen
A uf der Rückfahrt zur Plaza Santa Ana war ich fraglos nervöser als auf der Hinfahrt. Ständig sah ich auf die Uhr, ich wusste, dass ich nicht zu spät kommen durfte.
Ich erklärte dem Peruaner, warum und wann ich an der Plaza Santa Ana sein musste, und ermunterte ihn, aufs Gaspedal zu treten, wogegen er sich allerdings weigerte; die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu respektieren sei entscheidend, um Unfälle zu vermeiden, argumentierte er. Bis jetzt war ich immer nur innerhalb des Komplexes bei dreißig Stundenkilometern mit ihm gefahren. Seine Korrektheit erstaunte mich, ich sagte aber nichts. Stattdessen bat ich ihn, das Radio anzustellen. Ich wollte wissen, was die Nachrichten inzwischen berichteten.
Ich ließ das Fenster herunter. Die nächtliche Hitze erinnerte mich an den unglaublichen Film Body Heat von Lawrence Kasdan. Er spielt in einem so heißen Sommer, dass ein Polizist irgendwann sagt: »Es war so heiß, dass die Leute dachten, es gäbe keine Gesetze mehr, sie seien zerschmolzen und müssten nicht mehr eingehalten werden.«
Der Peruaner stellte die Cranberries ab, und die Nachrichten dröhnten uns entgegen. Sie meldeten, dass die Lage sich inzwischen geändert hatte. Offizielle Gegendarstellungen, alles Übertreibung, falsche Informationen. Die ganze Geschichte fiel in sich zusammen. Das Gesicht des Peruaners war ein Gedicht. In seinen Augen wurde gute Arbeit geleistet. Die Nachricht bekam keine Sauerstoffzufuhr mehr, drohte zu ersticken. Genauso war es etlichen Meldungen über meine Mutter ergangen, die von Liebhabern, ihrem tyrannischen
Weitere Kostenlose Bücher