Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
Charakter (was nicht ganz so falsch war) und ihrem Ableben berichteten, denn meine Mutter wurde in ihrem Leben mehrmals für tot erklärt. Sie sagte, das verjünge sie, außerdem gebe es ihr Gelegenheit, eine Bilanz ihres Lebens zu ziehen. Es sei wie eine Autopsie zu Lebzeiten. Und sie hielt große Stücke auf diese Art von Autopsien.
Als ich sechzehn war, erzählte sie mir von ihren sexuellen Autopsien. Sie sagte, es schade nicht, alle fünf Jahre eine zu machen. Das gehe so: Man legt sich ganz still hin, und jemand sagt einem, welcher Teil des Körpers lange nicht gestreichelt wurde, wie viele Küsse man bekommen hat und ob eine Wange oder Augenbraue oder Lippe bevorzugte Behandlung genossen hat. Eine regelrechte Autopsie unseres Sexuallebens, vorgenommen am lebendigen, wenn auch reglosen Leib.
Sie liebte den Gedanken, dass jemand nur unsere Finger anschauen musste, um zu wissen, ob ihre Berührungen der Leidenschaft oder der schlichten Routine entsprungen waren. Ob unsere Augen mit Begehren angeblickt wurden und ob unsere Zunge viele Artgenossen kennengelernt hatte. Außerdem, sagte sie, könnten wir auf diese Weise herausfinden, wann wir den besten Sex hatten, so wie man am Querschnitt eines Baumstamms sieht, wann er große Regenfälle oder Dürren durchgemacht hatte. Ob mit sechzehn, mit dreißig oder mit siebenundvierzig Jahren. Vielleicht immer im Frühling oder beinahe immer in Meeresnähe. Wie viele Bisse, gewisperte Worte, Knutschflecken man abbekommen hatte. Man müsse unseren Sex, unsere Lust, unsere einsamen Vergnügen zahlenmäßig erfassen.
Das Beste an einer solchen Autopsie war für sie, dass sie einem zeigte, wie lebendig man war, dass man immer alles verbessern konnte, mehr gestreichelt, mehr begehrt, mehr geliebt werden und selbst lieben konnte.
Ich selbst hatte nie so eine Autopsie vorgenommen, ich hatte immer zu große Angst vor dem Ergebnis. Es erfordert Courage, all das aus dem Mund einer anderen Person zu hören, sollte jemand mit solchen Fähigkeiten existieren.
Aber meine Mutter war eben so. Ich dachte wieder an das Bild über den Sex; das war ich ihr noch schuldig, ihr und meiner unvollständigen Trilogie.
Als ich noch malte, hatte ich mich immer in einem Laden in der Calle Valverde eingedeckt. Er wurde von einem zirka neunzigjährigen Kanadier geführt, der mir Spezialpreise machte.
Seit zwei Jahren malte ich jetzt nicht mehr. Ich überlegte, ob ich dort vorbeischauen sollte. Mir blieb gerade noch Zeit, später hätte ich dazu vielleicht keine Gelegenheit mehr. Wenn mein Chef und Dani es schafften, den Fremdling zu befreien, würde alles höchst kompliziert werden.
»Können wir noch kurz an der Ecke Valverde und Gran Vía vorbeifahren?«, fragte ich den Peruaner. »Es dauert nur einen Moment.«
Der Peruaner hatte nichts dagegen einzuwenden. Beinahe unmerklich änderte er die Route.
Ich dachte an das Mädchen im Teatro Español, überlegte, was ich ihr sagen, wie ich diese merkwürdige Begegnung angehen sollte, ohne dass sie mich für einen unberechenbaren Draufgänger hielt.
Das Telefon holte mich zurück in die Realität. Es war mein Chef.
»Was hast du herausgefunden?«, fragte er ohne Umschweife.
Ich hatte gehofft, es wäre nicht nötig, ich wollte es nicht einmal aussprechen. Ich bat den Peruaner, die dunkle Glasscheibe hochzufahren, wenn ich auch wusste, dass er trotzdem alles hören würde, was ich sagte.
»Musst du es wirklich wissen?«, fragte ich, als die Glasscheibe oben war.
»Unser erster Plan ist gescheitert, sie wollen ihn in einen anderen Komplex verlegen. Ich muss etwas in der Hand haben, damit uns der Sicherheitschef hilft. Hast du etwas?«
Ich hatte etwas, aber es gefiel mir ganz und gar nicht. Es auszusprechen kostete mich einige Überwindung.
»Marcos, wir verlieren ihn sonst«, insistierte mein Chef. »Wenn du mir nicht sagst, was du gesehen hast, geht er drauf. Die Presse wird nicht lockerlassen, deshalb wollen sie jede Spur von ihm vernichten.«
Es gab keine andere Lösung.
»Er hat Fotos von nackten kleinen Mädchen, zwischen zwei und fünf Jahren«, sagte ich. »Er sieht sie häufig an und bewahrt sie in einer mit ›Annex 2 ‹ beschrifteten Mappe auf, die sich auf seinem Schreibtisch in einer anderen, ›Annex‹ titulierten Mappe befindet.«
Ich fühlte mich miserabel. Mein Chef hörte sich schweigend alles an. Als er auflegte, hielt der Wagen gerade an der Ecke der Calle Valverde und Gran Vía.
Ich stieg aus und sah, dass das alte
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