Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
hier also euer zweites Leben.«
Ich atmete tief durch, das Mädchen auch. Er gab uns eine kleine Auszeit.
»Auf Planet 3 ist das Leben angenehmer als auf Planet 2 , auf Planet 2 besser als auf Planet 1 . Jeder Tod bringt dich auf einen neuen Planeten, wo alles harmonischer ist. Unabhängig vom Leben, das du geführt hast, es hat nichts mit der früheren Existenz zu tun, sondern ist ein Kreis, den man schließen muss. Man kann auf Planet 2 ein Dieb sein und ein Prinz auf Planet 3 . In jedem Fall wird man auf dem nächsten Planeten mehr Glück, Liebe und Erfüllung finden.«
In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass er log. Es musste einfach gelogen sein. Planeten, auf die man kommt, wenn man stirbt, so etwas Verrücktes, das ergab doch keinen Sinn.
»Insgesamt gibt es sechs Planeten«, sagte er. »Sechs Leben. Ab dem vierten Planeten erhält man besondere Gaben. Auf dem vierten ist man zum Beispiel in der Lage, mit einem Blick die Gefühlslage eines Menschen zu erkennen. Man sieht im Bruchteil einer Sekunde seine schönste und seine schrecklichste Erinnerung und zwölf Zusatzgefühle. Auf dem fünften Planeten erhält man die Gabe, sich an seine früheren Leben zu erinnern. Dort kann man auch wählen, ob man auf dem fünften Planeten bleiben oder direkt auf den sechsten überwechseln möchte. Eine wichtige Wahl. In dem Wissen, dass der sechste noch besser sein wird, gehen manche direkt in den Freitod. Andere dagegen wollen auch ihr fünftes Leben voll und ganz erleben.«
Er hielt wieder inne, drehte den Kopf ein wenig hin und her. Ich war unfähig, mich auch nur zu rühren. Soweit ich verstanden hatte, besaß ich die Gabe, die man auf dem vierten Planeten bekommt, aber nach dem, was er gesagt hatte, lebte ich erst auf dem zweiten. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Er ahnte wohl, was in mir vorging, jedenfalls lächelte er mir zu und sagte:
»Manchmal macht die Natur einen Fehler und gibt jemandem auf dem ersten, zweiten oder dritten Planeten eine falsche Gabe. So kann eine auf der Erde lebende Person versehentlich die Gabe erhalten, Menschen zu durchschauen. So habe auch ich bereits auf dem dritten Planeten erfahren, dass ich zwei Leben hinter mir und noch drei vor mir habe.« Er machte einen tiefen Atemzug. »Manchmal ist es nicht leicht, eine Gabe im falschen Leben zu besitzen.«
Er sah zu mir. Auch ich beobachtete ihn.
»Ich vermisse meine Frau, seit ich vor vielen Jahren zum zweiten Mal gestorben bin. Als ich auf dem sonderbaren dritten Planeten aufwachte, der von fünfeckigen Planeten umgeben ist und auf dem roter Regen fällt, wusste ich wieder um ihre Existenz, weil ich versehentlich die Gabe erhalten hatte, mich an meine früheren Leben zu erinnern. Und ich brachte schnell die anderen Leben hinter mich, um hierher zurückzukehren, in mein zweites Leben, obwohl man von dieser Möglichkeit eigentlich erst auf dem sechsten Planeten erfährt. Jedenfalls kam es aber so. Auf dem sechsten Planeten kann man wählen, ob man weiter ins Unbekannte reist oder auf einen der früheren Planeten zurückkehren will. Niemand kehrt je zurück, alle rücken weiter ins Unbekannte vor. Bis auf mich, denn ich wusste, dass sie immer noch hier lebte, mit ihren beinahe 109 Jahren weiterhin jeden Tag auf diesen Platz kam, den sie über alles liebte.«
Jetzt wurde mir klar, dass er unentwegt nach seiner geliebten Frau Ausschau hielt, während er sprach. Sein Blick musterte unermüdlich jede ältere Person, jede beschwerlich gehende alte Frau. Er suchte sie, er wollte sie wiederfinden.
Das Mädchen vom Theater und ich sahen uns an. Uns fehlten die Worte. Ich weiß nicht, was sie von dem Ganzen hielt, doch ich glaubte dem Fremdling, das schwöre ich.
»Was kommt nach dem sechsten Planeten?«, fragte sie schließlich.
Er lächelte.
»Das weiß man nicht, genauso wenig, wie ihr wisst, was nach diesem Leben kommt.« Er lächelte. »Man reist von Planet zu Planet, aber am Ende bleibt doch die gleiche Ungewissheit.«
Diesmal glaubte ich ihm wirklich nicht. Ich hatte das Gefühl, dass er sehr wohl wusste, was nach dem sechsten Planeten kam, es uns aber nicht sagen wollte. Wenn jedoch alles andere stimmte, hatte ich ebenso irrtümlich meine Gabe erhalten wie er seine. Das verband uns. Ich hatte meine Mutter verloren, und es war ein unerträglicher Schmerz zu wissen, dass ich sie nie wiedersehen würde. Er hatte auch einen ganz besonderen Menschen verloren und viele Leben durchlaufen, um ihn wiederzufinden. Da drängte sich
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