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Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Titel: Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Espinosa
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begann er. »Ich bin ein Fremdling. Ich mag diesen Namen, den sie mir gegeben haben, allerdings bin ich nicht mehr Fremdling, als ihr es auch bald sein werdet.«
    Er hielt eine Weile inne, ehe er fortfuhr.
    »Das Leben … Da, wo ich herkomme, ist das Konzept der Zeit, unserer Zeit, unseres Lebens, ein ganz anderes als hier. Trotzdem erscheint das Leben hier mir nicht sonderbar, denn ich habe es bereits gelebt.«
    Wir hingen an seinen Lippen. Das Mädchen vom Theater schob mir seine Hand hin, ich griff instinktiv danach und legte sie auf meinen Bauchnabel, wie es Jahre zuvor meine Mutter mit meiner gemacht hatte.
    Ich glaube, das Mädchen hatte Angst. Durch meine Adern floss dafür, wenn ich ganz ehrlich bin, der Mut des Platzes.
    »Vor vielen Jahren kam ich hier in Salamanca auf die Welt. Als kleiner Junge bin ich über diesen Platz gelaufen, hier habe ich mit meinen Geschwistern gespielt. Ich war ein sehr glückliches Kind. Ich erinnere mich noch daran, auch wenn es lange her ist. Als Erwachsener habe ich eine Stelle in einem nahe gelegenen Dorf angenommen, in Peñaranda de Bracamonte, und mich dort niedergelassen. Am 9 . Juli 1939 , kurz nach Ende des Spanischen Bürgerkriegs, fuhr ein mit Schießpulver beladener Zug in den Bahnhof ein und wurde durch einen Funken an den Rädern zur Explosion gebracht. Beinahe das ganze Dorf wurde zerstört. Ich verlor bei diesem Unglück ein Bein und einen Arm.«
    Er machte eine Pause. Ich glaube, wir alle brauchten sie. Irgendetwas blieb allerdings ungereimt an der Geschichte, denn dem Jungen neben uns auf der Bank fehlte weder ein Arm noch ein Bein.
    Da schickte er meiner Gabe ein weiteres Bild zu. Ich spürte es eintreffen, war mir nicht ganz sicher, ob ich es annehmen sollte, weil ich die Gabe eigentlich nicht aktiviert hatte, aber er sendete es trotzdem.
    Und so sah ich die Tragödie, wie er sie geschildert hatte. Ich sah ihn an jenem heißen Julisonntag in die Kirche gehen, den Zug in den Bahnhof einfahren, die große Explosion, die so viele Leben kostete. Ich drückte die Hand des Mädchens an meine Brust. Die Bilder waren unglaublich schmerzhaft, in den Bäumen hingen abgerissene Beine, Arme waren kilometerweit verstreut. So unendlicher Schmerz … Und ich sah ihn, mit einem Bein und einem Arm, wie er es gesagt hatte.
    Doch hier auf dem Platz hatte er beide Arme und Beine. Ich verstand gar nichts mehr. Manipulierte er meine Bilder?
    »Du hast es gesehen, nicht?«, fragte er. »Es war noch weitaus schlimmer als in der Erinnerung. Mein Leben nahm eine radikale Wende. Ich dachte, es wäre für immer vorbei mit allem, was ich mir je vorgestellt hatte. Da schickte die Armee Kriegsgefangene für den Wiederaufbau des Dorfes. Und ich lernte sie kennen. Sieh sie dir an«, forderte er mich auf.
    Ich sah seine erste Begegnung mit einem schönen braunhaarigen Mädchen. Sie war wesentlich jünger als er, mindestens zehn oder fünfzehn Jahre. Es war unglaublich, wie sie ihn ansah, wie ihr Blick ohne Mitleid auf seine Stümpfe fiel; in diesem Moment entstand etwas unermesslich Tiefes zwischen ihnen beiden. Es war eine so eindringliche, so berückende Erinnerung, dass ich keinen Zweifel hegte, den wichtigsten Augenblick im Leben dieses Fremdlings vor mir zu haben.
    »Wir waren fünfzig Jahre verheiratet. Mein Tod …« Wieder hielt er inne. »Mein Tod war friedlich, ich erinnere mich kaum an ihn, ich kann ihn dir nicht senden.«
    Sein Tod. Er sprach von seinem Tod wie von etwas Realem. Aber er war nicht tot. Ich glaube, das Mädchen vom Theater hätte genauso gern nachgehakt wie ich. Aber wir wagten es nicht, wir waren uns bewusst, dass es unser Denkvermögen überstieg und unsere Fragen nur unser Unwissen widergespiegelt hätten.
    »Ich nehme an, ihr habt euch schon einmal gefragt, was nach dem Tod kommt, nicht wahr?«, sagte er, ohne den Ton seiner Erzählung auch nur eine Spur zu ändern.
    Wir nickten, auch wenn wir wussten, dass es eine rhetorische Frage gewesen war.
    »Es kommt … mehr Leben.«
    Mein Herz und meine Speiseröhre pochten, mein Atem ging heftig. Dieser Fremdling war im Begriff, uns das begehrteste Geheimnis der Menschheit zu enthüllen. Er würde uns erzählen, was nach dem Leben kam, was uns im Tod erwartete.
    »Wenn man auf diesem Planeten stirbt, kommt man auf einen anderen … Die Erde trägt dort, wo ich jetzt herkomme, den Namen Planet 2 .« Er lächelte beim Anblick unserer konsternierten Mienen. »Ganz genau, es gibt einen Planeten 1 , für euch ist das

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