Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
noch nie jemanden so in sich zusammenfallen sehen. Er hatte seine Richtung verloren, sein Leben, sein Alles.
»Bist du sicher?«, fragte das Mädchen vom Theater.
Er nickte. Plötzlich wirkte er wie gelähmt, als hätten ihn all seine Kräfte verlassen. Was nicht erstaunlich war, wenn er tatsächlich fünf Leben gelebt oder ihnen ein Ende gemacht hatte, um hierher zu gelangen. Wegen der drei Monate, die man ihn festgehalten hatte, war ihm der Sinn seiner gesamten Existenz abhandengekommen.
»Und kannst du nicht zu ihr auf den dritten Planeten?«, fragte das Mädchen.
»Ja, aber …« Das Sprechen machte ihm Mühe. »Ich werde mich an nichts erinnern. Ich werde keine Gabe haben und nicht wissen, wer sie ist. Ich werde wieder ganz von vorne anfangen müssen.«
Ich wusste nicht, wie ich ihn aufmuntern sollte. Ich konnte nachvollziehen, wie niedergeschmettert er war, meine Mutter rief das gleiche Gefühl in mir hervor.
Ich stellte mir vor, dass seine Frau und meine Mutter auf dem dritten Planeten vielleicht enge Freundinnen wären. Ihre Geburt läge nur zwei Tage auseinander, und vielleicht würde es sie auf irgendeine unbekannte Weise verbinden, dass ihr einstiger Mann und Sohn in einem anderen Leben irrtümliche Gaben erhalten hatten.
»Ich muss zu ihr«, sagte der Fremdling. »Bestimmt wird sie in Peñaranda beigesetzt.«
Er stand auf und ging auf einen der Torbögen des Platzes zu. Der Regen nieselte auf uns herab, gleichzeitig war es jedoch so unglaublich warm, dass er auf unseren Kleidern sofort wieder trocknete.
Ich holte ihn ein und brachte ihn zum Wagen, in dem der Peruaner auf uns wartete. Peñaranda lag nur vierzig Kilometer entfernt. Wir legten die ganze Strecke schweigend zurück. Ich wagte nicht, ihn noch einmal nach meiner Beziehung zu dem Mädchen vom Theater zu fragen; es war nicht der Moment, irgendwie schien es jetzt nebensächlich.
Ich dachte an das große Rätsel meines Lebens: Wer war mein Vater? Meine Mutter wollte es mir nie sagen, und ich habe sie nie dazu gezwungen. Allerdings wusste ich, dass sie ein Tagebuch geführt hatte, in dem sie alles aufschrieb, und ich war mir sicher, dass sich dieses Tagebuch in ihrem Koffer befand. Doch nun kam mir der Gedanke, dass es vielleicht nicht ein Rätsel, sondern zwei Rätsel gab: Wer war mein Vater in meinem ersten und wer in meinem zweiten Leben?
Ich dachte auch darüber nach, was geschehen würde, wenn diese ganze Geschichte bekannt würde. Bestimmt würden viele kein Wort davon glauben, andere würden sich dafür begeistert überzeugen lassen, dass dieses Leben nur eines von vielen war. Wie würde sich das auf Menschen auswirken, die in diesem Leben nicht glücklich waren, ihre Ziele nicht erreicht hatten, gesundheitliche oder psychische Probleme hatten? Würden sie sich im Hinblick auf ein mögliches besseres Leben auf einem dritten Planeten umbringen? Waren die Menschen auf dem zweiten Planeten überhaupt vorbereitet, diese Informationen zu empfangen? Ich war froh, dass der Fremdling bei den Verhören nichts gesagt hatte und dieser Tag im Kalender nicht rot angestrichen werden würde.
Was das Mädchen von alldem hielt, war nicht zu erkennen, sie hielt die Lider gesenkt. Zweifellos machte auch sie sich ihre Gedanken.
Unsere Fahrt endete an der Plaza Nueva, dem dritten Platz in dieser Geschichte. Es war einleuchtend, dass die Frau des Fremdlings an einem Platz lebte und starb. Ein großes Schild wies darauf hin, dass dieser Platz von Kriegsgefangenen nach dem Spanischen Bürgerkrieg wiederaufgebaut worden war.
Wir fuhren bis zur Hausnummer 65 . Viele Nachbarn standen mit traurigen Mienen an der Tür. Ich dachte mir, dass sie vermutlich seit einiger Zeit krank gewesen war.
Der Fremdling stieg aus, wir folgten ihm. Er betrat das Haus und ging in den ersten Stock hinauf, in dem eine Wohnungstür offen stand. Auch drinnen befanden sich etliche Nachbarn. Sie mussten gerade erst von ihrem Tod erfahren haben.
Er ging ins Schlafzimmer. Im Bett lag eine sehr alte Frau, von Menschen umringt. Sie sah aus, als würde sie schlafen. Alle blickten uns verwundert an, doch niemand sagte etwas. Dieser soeben eingetretene Tod war vermutlich noch befremdlich genug, als dass irgendjemand eine Bemerkung gemacht hätte.
Der Fremdling wurde von ihrem Anblick sichtlich ergriffen. Ich konnte seine innere Bewegung spüren.
»Können Sie mich bitte mit ihr allein lassen?«, fragte er.
Die Anwesenden starrten ihn fassungslos an. Niemand hatte diesen Fremden je
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