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Marek-Miert 01 - Der dreizehnte Mann

Marek-Miert 01 - Der dreizehnte Mann

Titel: Marek-Miert 01 - Der dreizehnte Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Wieninger
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lag frei.
    Mantel und Kleid Emma Holzapfels klafften über ihrer zertrümmerten Hüfte weit auseinander. Man konnte bis in ihren Magen sehen. Kaddisch hatte die Wahrheit gesagt: Sie war meuchlings von hinten niedergefahren worden wie ein Karnickel.
    „Herr Otla, was mich noch interessieren würde, rein zu Studienzwecken, versteht sich: Wie kommt eigentlich die städtische Bestattung hier herein, um die Leichen abzuholen? Die Treppe ist doch wohl zu steil ...“
    Ich hatte den leichten Totenkörper Emma Holzapfels wieder umgedreht und genug gesehen. Es war hoch an der Zeit, die Hospitation zu beenden.
    „Pan, Otla möchte fünfzig Schilling.“
    Charons Münze. Otlas Intelligenzquotient war doch höher als 75. Er war zu meinem Tisch getreten und hatte begonnen, Emma Holzapfels Mantel aufzuknöpfen.
    Ich gab ihm hundert.
    „Na, durch das Tor in den Keller.“
    „Welches Tor, Herr Otla?“
    „Am Ende des Ganges. Eine Garageneinfahrt.“
    „Wo ist der Schlüssel für das Tor?“
    „Steckt innen, Herr Doktor.“
    „Sie waren mir ein weiser Führer durch die Unterwelt, Herr Otla.“
    „War Ihr Korpus wenigstens interessant, Herr Doktor?“
    „Schrecklich interessant, schrecklich ...“

XVI
    „Ich versuche in meiner Seminararbeit so etwas wie eine regionale Soziologie des Volkssturmes zu geben. Wer wurde für diese Formation rekrutiert, welches Alter, welcher soziale Hintergrund kennzeichnete die Rekruten dieser Einheit? Ein strikt sozialhistorische Betrachtungsweise, immer strikt bezogen auf diesen Raum, auf Harland. Pars pro toto.“
    „Mhm. Bei wem machen Sie denn das Seminar?“ fragte der blonde, durchsichtige Mann im blauen Seidenanzug, der den imposanten Titel Archivdirektor der Landeshauptstadt Harland führte. Ich stand in seinem Büro und hatte seit gut zehn Minuten keinen Stuhl und keinen Kaffee angeboten bekommen. Man soll Studenten eben nicht zu sehr verwöhnen.
    „Bei Dozent Loriot.“
    „Mhm. Sollte man den Mann kennen?“
    Ein guter Archivar ist ein vorsichtiger Archivar. Ein gutes Archiv ist ein Archiv des Schweigens. Es genügt sich selbst und bedarf daher eigentlich keiner neugierigen Benützer und Leser. Akten zu Akten, Zellstoff zu Zellstoff, Staub zu Staub.
    „Nicht unbedingt. Ein Gastdozent aus Lübeck. Er hat sehr viel gearbeitet, soviel ich weiß, über Humor bei der Wehrmacht und so ...“
    „Gab es den überhaupt?“
    „Mein Gott, vielleicht beim Fronttheater ...“
    „Für einen ziemlich spätberufenen Studenten wissen Sie ja ganz gut Bescheid.“ Der durchsichtige Archivdirektor lehnte sich in seinem Stuhl zurück und servierte mir seine Ironie mit einem gepflegten Lächeln. „Aber wir beide haben trotzdem ein Problem: Alle Akten vom 12. März 1938 bis zum 8. Mai 1945 sind gesperrt. Noch zwanzig Jahre lang. Das hätte Ihr Dozent eigentlich wissen müssen ... Wie war doch gleich sein Name? Vielleicht sollte ich ihn kurz über die Gepflogenheiten in österreichischen Archiven unterrichten?“
    „Loriot aus Lübeck, Klappe 3681 Durchwahl. Die Nummer der Universität Wien dürfte Ihnen ja bekannt sein ...“
    „Gleich nach dem Krieg hat man diese Archivsperre eingeführt, um die heimischen Nazis zu schützen. Ein Drittel der Gesellschaft, ein Drittel der Wählerschaft, ein Drittel der Macht“, sagte der Archivdirektor leichthin. Wie seine Vorgänger und Vorvorgänger hielt er sein Archiv des Schweigens geschlossen. Aber die alten Motive dafür hatten keine Kraft mehr - das glaubte ich aus seiner Suada herauszuhören. Außerdem redete man mit Studenten für gewöhnlich nicht so lang, ohne sich etwas zu vergeben.
    „Das war vor einem halben Jahrhundert - wie sieht die Geschichte heute aus? Oder soll ich besser Biochemie inskribieren?“ Ich spielte meine Rolle noch, obwohl sie mir längst nicht mehr abgenommen wurde.
    „Ich glaube nicht, daß Sie irgend etwas inskribiert haben“, sagte der Archivdirektor leise. Die Karten lagen jetzt offen. Es war an der Zeit, entweder zu hasardieren oder die Partie mit leichten Verlusten zu beenden.
    „Wieviel kostet es, die Sperre zu durchbrechen?“ fragte ich so undramatisch wie möglich.
    „Nur meinen Job“, lächelte der Archivdirektor. Er war jetzt so durchsichtig wie Seidenpapier. „Aber dieses Opfer wäre vollkommen sinnlos, weil wir nämlich überhaupt keine Volkssturm-Akten haben ... Die Rekrutierung erfolgte überaus hastig in den letzten Kriegstagen, man ging einfach von Haus zu Haus und holte alles, was noch irgendwie

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