Margaret Mitchell
Sie wußte jetzt, was jener Mensch
empfunden haben mußte. Das Pferd aber war noch lebendig, es atmete schwer, die
schmerzenden Augen waren halb geschlossen, aber es lebte. Etwas Wasser würde
ihm wieder auf die Beine helfen.
Widerspenstig
und stöhnend kletterte auch Prissy aus dem Wagen und folgte Scarlett furchtsam
die Allee entlang. Hinter den Ruinen standen die kleinen weißverputzten
Sklavenhäuser stumm und verlassen unter überhängenden Zweigen. Zwischen den
Sklavenhäusern und den verräucherten Fundamenten fanden sie den Brunnen. Sein
Dach war noch heil, der Eimer hing tief unten im Wasser. Mit vereinten Kräften
wanden sie das Seil in die Höhe, und als der Eimer voll klaren, schimmernden
Wassers aus der dunklen Tiefe aufstieg, setzte Scarlett ihn an die Lippen,
schlürfte gierig und verschüttete dabei Wasser über ihren ganzen Körper. Sie
trank, bis Prissys klägliches »Ich auch Durst, Missis!« sie an die Bedürfnisse
der andern gemahnte.
»Mach das
Seil los, bring den Eimer an den Wagen und gib ihnen zu trinken. Den Rest
bekommt das Pferd. Meinst du nicht, Miß Melly müßte das Kind nähren? Es
verhungert uns doch.«
»O Gott,
Miß Scarlett, Miß Melly hat doch keine Milch und kriegt auch keine.«
»Woher
weißt du das?«
»Ich schon
so viele solche gesehen.«
»Tu dich
nicht wieder wichtig. Gestern wußtest du wenig genug von Babys. Mach schnell,
ich will sehen, ob ich etwas zu essen finde.«
Scarlett
suchte vergebens im Obstgarten, ob sie ein paar Äpfel fände. Vor ihr waren
Soldaten dagewesen. An den Bäumen saßen keine Früchte mehr, und was am Boden
lag, war größtenteils verrottet. Sie sammelte sich das Beste in ihren Rock und
kehrte über den lockeren Boden zum Wagen zurück. Ihre Schuhe füllten sich mit
Kieselsteinen. Warum hatte sie gestern abend nicht daran gedacht, festere
Schuhe anzuziehen und ihren Sonnenhut aufzusetzen? Warum hatte sie nichts zu
essen mitgenommen? Wie eine dumme Gans hatte sie gehandelt. Aber sie hatte ja
geglaubt, Rhett Butler würde für sie sorgen.
»Rhett!«
Sie spie auf den Boden. Schon der Name gab ihr einen üblen Geschmack im Mund.
Wie sie ihn haßte, wie verächtlich er ihr war! Und sie hatte auf der Straße
gestanden und sich von ihm küssen lassen, und das beinahe gern. Sie war
verrückt gewesen! Wie gemein er war!
Sie
verteilte die Äpfel und warf den Rest in den Wagen. Das Pferd stand jetzt zwar
wieder auf den Beinen, aber das Wasser schien es nicht genügend erfrischt zu
haben. Bei Tage sah es noch viel erbärmlicher aus als am Abend. Die Hüftknochen
standen hervor wie bei einer alten Kuh, die Rippen mit der schlaffen Haut
darüber sahen wie ein Waschbrett aus, der ganze Rücken war wund. Es widerte sie
an, ihn zu berühren, als sie das Pferd anschirrte. Als sie ihm die Trense ins
Maul steckte, sah sie, daß es so gut wie keine Zähne mehr hatte. Wenn Rhett ihr
schon ein Pferd stahl, warum konnte er dann kein besseres finden? Sie stieg auf
den Wagen und gab dem Tier einen Schlag mit der Nußgerte auf den Rücken. Das
Pferd schnaubte und zog an, ging aber so langsam, daß sie ohne Mühe schneller
hätte nebenher gehen können. Ach, hätte sie doch nicht Melanie, Wade, das
Kleine und Prissy auf dem Hals, wie schnell wollte sie nach Hause gelangen, Schritt
für Schritt bis zur Mutter nach Tara!
Es konnten
keine fünfzehn Meilen mehr bis dorthin sein, aber bei der Langsamkeit des alten
Kleppers würden sie wohl den ganzen Tag dazu brauchen. Oft mußten sie anhalten,
damit er sich ausruhe. Sie schaute die blendend rote Straße hinunter, die von
Wagenrädern tief durchfurcht war. Es konnte Stunden dauern, bis sie erfuhr, ob
Tara noch stand und ob Ellen da war, Stunden, ehe sie unter der glühenden
Septembersonne ans Ziel dieser Fahrt gelangten.
Sie
schaute zurück und sah, wie Melanie die schmerzenden Augen gegen die Sonne
geschlossen hielt. Dann nahm sie ihren Hut vom Kopf und gab ihn Prissy. »Leg
ihn übers Gesicht.« Als nun die Hitze auf ihren eigenen, ungeschützten Kopf
erbarmungslos herabstrahlte, dachte sie: »Bis zum Abend bin ich mit
Sommersprossen gesprenkelt wie ein Perlhuhnei.«
Nie im
Leben war sie ohne Hut und Schleier in der Sonne gewesen, nie hatte sie ohne
Handschuhe, die die weiße Haut ihrer Hände schützten, Zügel gehalten. Hier, auf
diesem halb zerbrochenen Wagen mit dem kranken Gaul davor, war sie nun der
Sonne preisgegeben, schmutzig, schweißbedeckt und hungrig, unfähig, etwas
anderes zu tun, als mühselig im
Weitere Kostenlose Bücher