Margaret Mitchell
Weges war
nichts - nichts als nur Scarlett O'Hara Hamilton mit ihren neunzehn Jahren,
eine Witwe mit einem kleinen Kind.
Was sollte
sie mit sich anfangen? Tante Pitty und Burrs in Macon konnten Melanie und das
Kleine aufnehmen, und wenn die Mädchen wieder gesund waren, würde Ellens
Familie, ob sie wollte oder nicht, für sie sorgen müssen. Gerald und sie selber
aber konnten sich an Onkel James und Onkel Andrew wenden.
Sie warf
einen Blick auf die abgezehrten Gestalten, die sich da unruhig in ihren
feuchten Laken wälzten. Sie hatte Suellen nicht gern, das erkannte sie jetzt
plötzlich klar. Sie hatte sie nie gut leiden können. Auch Carreen liebte sie
nicht sonderlich - hatte sie doch nie Schwachheit leiden mögen. Aber sie waren
ihres Blutes und ein Teil von Tara. Nein, sie konnte sie nicht im Hause ihrer
Tanten als arme Verwandte leben lassen. Eine O'Hara als arme, mitleidig
geduldete Verwandte? Niemals! Wo war der Ausweg? Scarletts müdes Hirn arbeitete
langsam. Schwerfällig hob sie die Hände an den Kopf, als sei die Luft Wasser,
das ihre Arme mühsam zerteilen müßten. Sie nahm die Kürbisflasche wieder auf
und blickte hinein. Ein kleiner Rest Whisky war noch darin. Sonderbar, daß der
scharfe Duft ihre Nase jetzt nicht mehr beleidigte. Sie trank langsam, der
Schnaps brannte nicht mehr, sondern hatte nur noch eine schläfrige Wärme zur
Folge. Sie setzte das leere Gefäß nieder und sank in einen Halbschlaf. Dann
fand sie sich in ihrem eigenen Zimmer wieder und auf ihrem eigenen Bett. Der
schwache Schimmer des Mondes erhellte die Dunkelheit, Mammy und Dilcey zogen
sie aus. Das peinigende Korsett zwängte ihr nicht mehr die Taille ein, sie
konnte tief und ruhig bis auf den Grund der Lunge atmen. Sie fühlte, wie ihr
die Strümpfe sacht abgestreift wurden, und hörte Mammy kosende Mitleidslaute in
sich hineinbrummeln, während sie ihr die blasenbedeckten Füße badete. Sie
seufzte tief auf, alle Anspannung legte sich, und nach einer Weile, die ebensogut
ein Jahr wie eine Sekunde gedauert haben mochte, war sie wieder allein. Es
wurde heller in der Stube, da die Strahlen des Mondes sich über ihr Bett
ergossen.
Sie wußte
nicht, daß sie von der Erschöpfung und dem Kornbranntwein betrunken war. Ihr
war nur bewußt, daß sie ihren müden Körper verlassen hatte und irgendwo
darüberhin schwebte, wo es keinen Schmerz und keine Müdigkeit mehr gab, und ihr
Geist alles in einer übermenschlichen Klarheit durchschaute. Sie sah alles mit
anderen Augen als zuvor an, denn irgendwo auf dem langen Weg hierher hatte sie
die Kindheit endgültig abgestreift. Heute abend war sie zum letztenmal in ihrem
Leben wie ein Kind gewartet worden. Jetzt war sie eine Frau, und die Jugend war
vergangen. Morgen, schon morgen wollte sie sich das Joch auf den Nacken legen.
Wieviel gab es zu tun! Sie wollte in Tara bleiben und es behalten, Tara, ihren
Vater und ihre Schwestern, Melanie und Ashleys Kind und die Neger. Morgen mußte
sie nach Twelve Oaks und auf die Maclntoshsche Plantage und nachsehen, ob in
den verlassenen Gärten noch etwas zu holen war, mußte auf die Weiden und nach
verlaufenen Schweinen und Küken Ausschau halten, mußte mit Ellens Schmuck nach
Jonesboro und Lovejoy und jemanden finden, der ihr etwas zu essen verkaufte.
Morgen ... morgen ... Ihr Gehirn tickte immer langsamer, wie eine Uhr, die
stehenbleiben will.
Aber immer
noch blieb das Leben in Bildern von übermenschlicher Klarheit vor ihren
Blicken. Alle die alten Familiengeschichten zogen an ihr vorüber. Gerald war
ohne einen Pfennig hergekommen und hatte Tara erbaut, Ellen hatte einen
geheimnisvollen Kummer überwunden, Großvater Robillard hatte Napoleons Sturz
erlebt und neuen Wohlstand an der Küste von Georgia begründet. Urgroßvater
Prudhomme hatte aus dem Dschungel von Haiti ein Heines Königreich gemacht und
es wieder verloren und hatte erlebt, wie sein Name in Savannah zu neuen Ehren
kam. Und da waren die Scarletts, die mit den irischen Freiwilligen um ein
freies Vaterland gekämpft hatten und dafür gehenkt worden waren, und die
O'Haras, die am Boynefluß gefallen waren und bis zum Tode für ihr Eigentum
gestritten hatten. Alle, alle hatten sie zermalmendes Unglück erlebt und sich
nicht davon zermahnen lassen. Oft hatte ein tückisches Schicksal ihnen den
Nacken gebeugt, aber nie hatte es ihnen das Herz gebrochen. Sie hatten nicht
gejammert, sie hatten gekämpft und waren gestorben, aber unbesiegt. Alle die
Schattengestalten, deren Blut durch
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