Margaret Mitchell
lief die Sau
immer noch frei herum. Scarlett sagte sich, wenn sie dabei wäre, so würde sie
sich das Kleid bis über die Knie heraufziehen, das Seil nehmen und mit einem
Wurf das Tier in der Schlinge haben. Aber selbst wenn es nun endlich gelang,
und wenn dann eines Tages die Ferkel und schließlich auch das Muttertier
aufgegessen waren - was dann? Dann ging das Leben weiter und der Hunger auch.
Der Winter kam, und es würde nichts zu essen geben, nicht einmal die kargen
Gemüsereste aus den Nachbargärten. Sie brauchte getrocknete Erbsen, Zuckerrohr,
Mehl, Reis, Getreide und - Baumwollsaat für die nächste Frühjahrsbestellung,
und endlich auch neue Kleider. Wo sollte das alles herkommen, und womit sollte
sie es bezahlen?
Sie hatte
heimlich Geralds Taschen und seine Kasse durchsucht und nichts gefunden außer
einem Bündel konföderierter Staatspapiere und dreitausend Dollar in
konföderieten Noten. Damit konnte sie kaum eine Mahlzeit bezahlen, die für sie
alle reichte! Das Papiergeld war weniger als nichts wert. Aber selbst wenn sie
Geld hätte und irgendwo Nahrungsmittel auftriebe, wie sollte sie sie nach Tara
befördern? Warum hatte Gott das alte Pferd sterben lassen? Selbst noch dies
elende Tier, das Rhett gestohlen hatte, wäre für sie von unermeßlichem Wert
gewesen. Ach, und die schönen glatten Maultiere, die einst auf der Koppel
jenseits der Straße umhergesprungen waren, die schmucken Wagenpferde, die
kleinen Stuten, die Ponys der Mädchen und Geralds mächtiger Hengst, die da alle
hin und her galoppiert waren und das Gras aufgeschlagen hatten - hätte sie
jetzt nur eines davon, und wäre es nur ein störrisches Maultier!
Einerlei -
wenn ihr Fuß geheilt war, wollte sie nach Jonesboro gehen. Einen so langen Weg
hatte sie im Leben noch nicht zu Fuß gemacht, aber sie wollte es tun. Und wenn
die Yankees die Stadt vollständig abgebrannt haben sollten, so fände sie
vielleicht doch jemanden in der Nachbarschaft, der ihr sagen konnte, wo es
etwas zu essen gäbe. Sie sah Wades Gesichtchen vor sich, wie er immer wieder
sagte, er möge keine Bataten mehr, er wolle eine Geflügelkeule mit Reis und
Brühe.
Plötzlich
trübte sich das helle Sonnenlicht im Vordergarten, und die Bäume verschwammen
ihr in einem Schleier von Tränen. Sie ließ den Kopf auf die Arme sinken und kämpfte
mit dem Würgen in ihrer Kehle. Doch wie zwecklos war jetzt das Weinen! Damit
ließ sich nur etwas erreichen, wenn ein Mann da war, den es zu erweichen galt.
Als sie nun dort kauerte und die Tränen herunterzuwürgen suchte, wurde sie
durch Hufschlag erschreckt. Aber sie hob den Kopf nicht. Sie hatte sich den
Klang in den letzten vierzehn Tagen und Nächten allzuoft eingebildet, genau,
wie sie sich immer wieder eingebildet hatte, Ellens Kleid rascheln zu hören.
Das Herz hämmerte ihr wild wie jedesmal in solchen Augenblicken, ehe sie sich
unerbittlich zurechtwies: »Narrheiten!«
Aber der
Hufschlag verlangsamte sich zum Schritt, und nun knirschte es regelmäßig im
Kies. Das war ein Pferd ... Tarletons, Fontaines! Rasch blickte sie auf. Es war
ein Yankee. Rasch schlüpfte sie hinter den Vorhang und spähte hinaus - der
Schrecken verschlug ihr den Atem. Der Yankee saß schlaff im Sattel, es war ein
dicker, grober Mensch mit einem struppigen schwarzen Bart über der
aufgeknöpften blauen Jacke. Aus kleinen, engstehenden Augen blinzelte er unter
dem Schirm der blauen Mütze durch den Sonnenschein auf das Haus. Als er langsam
abstieg und die Leine über den Pfosten warf, kehrte Scarlett so jäh und
schmerzhaft, als hätte sie einen Stoß vor den Magen bekommen, der Atem zurück.
Ein Yankee mit einer langen Pistole an der Hüfte, und sie war allein im Hause
mit drei kranken Mädchen und den Babys!
Als er mit
der Hand an der Pistole den Weg heraufgeschlendert kam und die Blicke nach
rechts und links schweifen ließ, drehte sich in ihrem Geist ein wirres
Kaleidoskop durcheinanderwirbelnder Bilder: Geschichten aus Tante Pittys
ängstlichem Munde von Angriffen auf schutzlose Frauen; durchschnittene Kehlen;
Häuser, die über Sterbenden angezündet wurden; auf Bajonette gespießte Kinder
und all die unsagbaren Greuel, die das Wort »Yankee« umschloß. Im ersten
Schrecken wollte sie sich im Schrank verstecken, unter das Bett kriechen oder
die Hintertreppe hinunterjagen und schreiend das Weite suchen. Dann hörte sie
ihn vorsichtig die Stufen zur Veranda emporsteigen und in die Halle treten und
wußte nun, daß die Flucht ihr abgeschnitten
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