Margaret Mitchell
Schornsteinen, auf die in der Morgensonne ihr Blick fiel, von den
toten Männern und Pferden längs der Straße, dem Hunger, der Einsamkeit und der
Angst.
»Und ich
dachte, bei Mutter könnte ich all meine schwere Last abladen. Auf dem Heimweg
glaubte ich, das Schlimmste sei mir bereits widerfahren. Aber als ich ihren Tod
erfuhr, wußte ich erst, was in Wirklichkeit das Schlimmste war.«
Sie schlug
die Augen zu Boden und wartete auf ein Wort der alten Dame. Die aber schwieg so
lange, daß Scarlett schon meinte, sie habe nicht mehr zugehört. Endlich aber
erklang ihre Stimme und freundlicher, als Scarlett sie je zu einem Menschen
hatte sprechen hören.
»Kind, es
ist sehr schwer für eine Frau, das Schlimmste zu erleben, was ihr widerfahren
kann; wenn sie dem Schlimmsten ins Gesicht gesehen hat, kann sie sich nie
wieder fürchten. Und es ist sehr schlimm, wenn eine Frau vor nichts mehr Angst
hat. Sie meinen, ich verstehe nicht, was Sie durchgemacht haben? Ach, ich
verstehe es sehr gut. Als ich ungefähr in Ihrem Alter war, wurde ich Zeuge
eines Indianeraufstandes, gleich nach der Metzelei in Fort Mims.« Ihre Stimme
kam wie aus weiter Ferne. »Ja, ich war genau in Ihrem Alter, es sind einige
fünfzig Jahre her. Es gelang mir, ins Gebüsch zu entkommen und mich zu
verstecken. Da lag ich und sah unser Haus in Flammen und sah, wie die Indianer
meine Geschwister skalpierten. Ich aber konnte nur daliegen und beten, daß der
Feuerschein mich ihnen nicht verriete. Dann zerrten sie Mutter heraus und
erschlugen sie, etwa zwanzig Fuß von meinem Versteck, und skalpierten auch sie,
und immer wieder kam ein Indianer zu ihr zurück und schlug mit seinem Tomahawk
in ihren Schädel. Ich war Mutters Liebling, und da lag ich und sah alles mit
an. Den nächsten Morgen machte ich mich auf nach der nächsten Niederlassung,
die dreißig Meilen entfernt war. Drei Tage brauchte ich, um dahin zu kommen,
und nachher meinten sie, ich hätte den Verstand verloren. Dort habe ich Dr.
Fontaine getroffen ... Ja, das sind fünfzig Jahre her, und seitdem habe ich vor
nichts und niemand mehr Angst gehabt, weil ich wußte, etwas Schlimmeres konnte
mir nicht mehr zustoßen. Und dieser Mangel an Angst hat mir viel
Schwierigkeiten gemacht und mich um manches Glück betrogen. Gott hat die Frau
zu einem furchtsamen Wesen erschaffen, und eine Frau, die sich nicht fürchtet,
hat etwas Unnatürliches ... Scarlett, behalten Sie immer etwas, wovor Sie sich
fürchten - so wie Sie immer etwas behalten sollten, was Sie liebhaben ... «
Ihre
Stimme verlor sich. Schweigend stand sie da und suchte über ein halbes
Jahrhundert hinweg den Tag, an dem sie sich noch gefürchtet hatte. Über
Scarlett kam die Ungeduld. Sie hatte gedacht, Großmama würde ihr vielleicht
einen Weg aus ihren Kümmernissen zeigen. Aber wie alle alten Leute war sie auf
Dinge zu sprechen gekommen, die geschehen waren, ehe irgend jemand geboren war,
und die niemanden etwas angingen.
»Nun gehen
Sie nach Hause, Kind«, sagte die alte Dame plötzlich. »Schicken Sie Pork heute
nachmittag mit dem Wagen. Und denken Sie nicht, Sie könnten je Ihre Last
abwerfen. Das können Sie nicht. Ich weiß es.«
In diesem
Jahr zog sich der Nachsommer bis in den November hinein, und die warmen Tage
wurden für die Bewohner von Tara ein wenig freundlicher. Das Schlimmste war
überstanden. Sie hatten jetzt ein Pferd, das sie reiten konnten, und brauchten
nicht mehr zu Fuß zu gehen. Sie hatten Spiegeleier zum Frühstück und gebratenen
Schinken zum Abendessen, als Abwechslung von den eintönigen Bataten, Erdnüssen
und gedörrten Äpfeln. Einmal hatten sie zu einer festlichen Gelegenheit sogar
Brathühner. Die alte Sau war endlich eingefangen worden. Mit ihrer Brut wühlte
und grunzte sie zufrieden in ihrem Verschlag unter der hinteren Veranda.
Manchmal war von dorther ein so lautes Gequietsche zu hören, daß man einander
kaum noch verstehen konnte, aber es war allen ein lieblicher Lärm. Er bedeutete
frisches. Schweinefleisch und Schwarzsauer für die Neger, wenn mit dem kalten
Wetter die Schlachtzeit kam, und Nahrung durch den ganzen Winter für alle
zusammen.
Scarletts
Besuch bei Fontaines hatte ihr mehr Mut gemacht, als sie sich eingestand. Das
Bewußtsein, befreundete Nachbarn zu haben, vertrieb das schreckliche Gefühl der
Einsamkeit, die sie in den ersten Wochen so niedergedrückt hatte. Fontaines und
Tarletons, deren Plantagen weitab von der Heerstraße gelegen waren, teilten das
wenige, das ihnen
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