Margaret Mitchell
und er hätte die
Peitsche dafür zu kosten bekommen. Zum mindesten hätte sie es ihm streng verboten.
»Denk immer daran, Kind«, hatte Ellen ihr eingeprägt, »daß du ebenso für das
moralische wie für das körperliche Wohl der Schwarzen, die Gott deiner Hut
anvertraut hat, verantwortlich bist. Du mußt bedenken, daß sie wie Kinder sind
und wie Kinder vor sich selbst behütet werden müssen. Du mußt ihnen immer mit
gutem Beispiel vorangehen.«
Jetzt aber
schob Scarlett solche erzieherischen Pflichten von sich weg. Daß sie den
Diebstahl duldete, vielleicht bei Menschen, denen es noch schlechter ging als
ihr, rührte ihr Gewissen nicht mehr. Anstatt Pork auszuschelten und zu
bestrafen, tat es ihr nur leid, daß er verletzt worden war. »Du mußt vorsichtig
sein, Pork, wir wollen dich nicht verlieren, was sollten wir ohne dich
anfangen? Du bist ein guter, treuer Kerl, und wenn wir wieder etwas Geld haben,
kaufe ich dir eine goldene Uhr und lasse einen Spruch aus der Bibel
eingravieren, oder: >Dem guten und getreuen Knechte<.«
Pork
strahlte über das Lob und rieb sich bedächtig das verbundene Bein. »Das ist
aber mächtig fein, Miß Scarlett. Wann kommt denn das Geld?«
»Das weiß
ich noch nicht, Pork, aber irgendwann und irgendwie wird es schon kommen.« In
ihren Augen lag so ein bitterer Ausdruck, daß es ihm durchs Herz ging. »Eines
Tages, wenn der Krieg vorbei ist, werde ich viel Geld haben, und dann soll
keiner von uns je wieder hungern und frieren, und dann kaufen wir uns alle
schöne Sachen zum Anziehen, und jeden Tag gibt es gebratenes Huhn ... «
Sie hielt
inne. Die strengste Hausregel auf Tara, von ihr selbst aufgestellt und
unerbittlich durchgeführt, lautete, daß niemand von den schönen Speisen
früherer Zeiten oder davon reden dürfte, was sie sich zu essen wünschten.
Pork
schlüpfte aus dem Zimmer, während Scarlett noch immer traurig vor sich hin
starrte. In den alten Tagen war das Leben so vielfältig verschlungen und voll
der schwierigsten Probleme gewesen. Sie hatte sich den Kopf darüber zerbrechen
müssen, wie sie Ashleys Liebe gewinnen und zugleich ein Dutzend anderer
Verehrer am Gängelband halten sollte. Kleine Verstöße gegen die guten Sitten
mußten vor älteren Leuten verborgen, eifersüchtige Freundinnen gereizt und
wieder besänftigt werden, Stoffe und Modeschnitte waren auszusuchen,
Haartrachten zu erproben und noch so vieles, vieles andere zu beschließen und
zu entscheiden. Und nun war das Leben so erstaunlich einfach geworden. Das
einzig wichtige war, die Familie vor dem Hunger und der Kälte zu schützen und
ein Dach über dem Kopf zu haben, das nicht zu arg leckte.
In diesen
Wochen hatte Scarlett immer wieder einen bösen Traum, der ihr noch jahrelang
nachgehen sollte. Es war immer derselbe, selbst bis in die Einzelheiten hinein,
aber bei jedem Mal wurde er entsetzlicher, und die Angst, ihn noch einmal zu
durchleben, suchte sie sogar zur Tageszeit heim. Die Vorfälle des Tages, da sie
ihn zuerst geträumt hatte, waren ihr noch lebhaft gegenwärtig.
Seit
einiger Zeit war es kalt und regnerisch gewesen, und im Hause wurde es vor Zug
und Feuchtigkeit nicht mehr warm. Im Kamin qualmten die nassen Scheite und
gaben keine Hitze her. Seit dem Frühstück hatte es nichts anderes als Milch
gegeben, die Bataten waren aufgezehrt, und Porks Schlinge und Angelruten hatten
nichts gebracht. Wenn am nächsten Tag überhaupt etwas zu essen dasein sollte,
so mußte ein Ferkel daran glauben. Erschöpfte, hungrige Gesichter starrten
Scarlett an, weiße und schwarze, und verlangten stumm nach Nahrung, und
obendrein hatte Wade Halsschmerzen und Fieber, und weder Arzt noch Arznei waren
zu haben. Scarlett hatte beim Kind gewacht und war müde und hungrig. Sie ließ
sich ein Weilchen von Melanie ablösen und legte sich aufs Bett, um ein wenig zu
ruhen. Sie hatte eiskalte Füße und konnte nicht schlafen. Sie wälzte sich von
einer Seite zur anderen, Angst und Verzweiflung quälten sie. Endlich war sie in
einen unruhigen Schlummer gefallen. Sie befand sich in einem wüsten, fremden
Lande, wo so dicke Rauchschwaden sie umwirbelten, daß sie die Hand nicht vor
Augen sehen konnte. Der Grund und Boden unter ihren Füßen war trügerisch. Ein
wahres Gespensterland war es, schweigend lag es in entsetzlicher Stille da. Sie
hatte sich verirrt und ängstigte sich wie ein Kind im Dunkeln. Sie litt
bitterlich an Kälte und Hunger, sie versuchte aufzuschreien und konnte es
nicht. Finger langten aus dem
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