Margaret Mitchell
widerfahren könnte, schon
erlebt, und das war ihr damals von Herzen gekommen. Jetzt erschien ihr diese
Bemerkung wie die Übertreibung eines Schulmädchens. Bevor Shermans Soldaten zum
zweitenmal durch Tara kamen, hatte sie einen kleinen Vorrat an Nahrungsmitteln
und Geld gehabt, einige hilfreiche Nachbarn und die Baumwolle, mit der sie sich
bis zum Frühling über Wasser halten wollten. Jetzt aber waren Baumwolle und
Nahrungsmittel dahin, mit dem Gelde konnte sie nirgends etwas zu essen kaufen,
und die Nachbarn waren noch ärger daran als sie. Sie besaß wenigstens noch die
Kuh und das Kalb, ein paar Ferkel und das Pferd. Aber den Nachbarn war nur das
wenige geblieben, was sie in den Wäldern hatten verstecken und im Erdboden
hatten vergraben können.
Fairhill,
der Besitz der Tarletons, war bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und Mrs.
Tarleton und ihre vier Töchter wohnten jetzt in dem Haus des Sklavenaufsehers;
auch Munroes Haus bei Lovejoy war dem Erdboden gleichgemacht. Der hölzerne
Flügel von Mimosa war abgebrannt, und nur der dicke Putz des Haupthauses hatte
mit Hilfe der Fontaineschen Damen und ihrer Sklaven, die verzweifelt mit nassen
Decken gegen das Feuer angekämpft hatten, widerstanden. Calverts Haus war dank
der Fürsprache Hiltons, des Yankeeaufsehers, wieder verschont geblieben, aber
nicht ein Stück Vieh oder Geflügel und nicht ein Maiskolben waren ihnen
verblieben.
Auf Tara
und in der ganzen Provinz war die Frage der Ernährung die schwierigste. Die
meisten Familien hatten nichts weiter mehr als den Rest ihrer Batatenernte,
ihre Erdnüsse und das Wild, das sie im Wald erlegen konnten. Jeder teilte, was
er hatte, mit den noch ärger Heimgesuchten, wie man das auch in glücklicheren
Zeiten getan hatte. Aber bald kam die Zeit, da es nichts zu teilen mehr gab.
Auf Tara
wurden Kaninchen, Opossums und, wenn Pork beim Angeln Glück hatte, Fische
gegessen. Ferner ein wenig Milch, Walnüsse, geröstete Eicheln und Bataten.
Hunger litten sie ständig. Es kam Scarlett vor, als begegnete sie an jeder Ecke
ausgestreckten Händen und bittenden Augen. Der bloße Anblick machte sie nahezu
rasend; denn sie war selber nicht weniger hungrig als die anderen.
Sie ließ
das Kalb schlachten, weil es zuviel von der kostbaren Milch trank, und an
diesem Abend aßen sie so viel frisches Fleisch, daß alle krank davon wurden.
Sie wußte, daß es eigentlich richtiger gewesen wäre, eins der Ferkel zu opfern,
aber von Tag zu Tag schob sie es auf und hoffte, sie doch noch großziehen zu
können. Sie gaben nur wenig her, wenn sie jetzt geschlachtet wurden, und so
viel mehr, wenn man noch damit wartete. Allabendlich beratschlagte sie mit
Melanie, ob es ratsam sei, Pork zu Pferde mit einigen Banknoten der Union über
Land zu schicken, um Nahrungsmittel einzukaufen. Aber die Angst, das Pferd
könnte abgefangen und das Geld Pork genommen werden, hielt sie zurück. Sie
wußten nicht, wo die Yankees sich aufhielten. Sie konnten tausend Meilen weit
entfernt und ebensogut am anderen Ufer des Flusses stehen. Einmal war Scarlett
in der Verzweiflung drauf und dran, selbst auf Proviantsuche zu reiten, aber
die wilden Angstausbrüche der ganzen Familie brachten sie von dem Plan wieder
ab.
Pork ging
auf weite Streifzüge und kam manchmal die ganze Nacht nicht nach Hause, und
Scarlett fragte ihn nicht, wo er gewesen war. Manchmal kam er mit Wildbret
zurück, manchmal mit ein paar Kornähren oder einem Sack getrockneter Erbsen.
Einmal brachte er einen Hahn mit nach Hause und behauptete, ihn im Wald aufgetrieben
zu haben. Die Familie aß ihn mit Genuß, aber nicht ohne Schuldbewußtsein, denn
alle waren überzeugt, daß Pork ihn so gut wie die Erbsen und das Korn gestohlen
hatte. Eines Abends klopfte er, als alles schon längst schlief, an Scarletts
Tür und zeigte ihr mit dem harmlosesten Gesicht sein von Schrotschüssen
verletztes Bein. Als sie es ihm verband, bekannte er verlegen, daß er ertappt
worden sei, als er in einen Hühnerstall in Fayetteville einbrechen wollte.
Scarlett fragte nicht danach, wem der Hühnerstall gehörte, sondern klopfte Pork
sanft auf die Schulter und hatte Tränen in den Augen. Manchmal waren die Neger
schwer erträglich, dumm und faul, aber es steckte eine Treue in ihnen, die für
Geld nicht zu kaufen war, eine Verbundenheit mit ihren weißen Herren, die sie
das Leben aufs Spiel setzen ließ, nur damit etwas zu essen auf den Tisch kam.
Zu anderen
Zeiten wäre Porks Diebstahl eine ernste Sache gewesen,
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