Margaret Mitchell
dafür hungern müßte, damit
er rasch mit der Eisenbahn heimkehrte.
»Geliebte,
ich komme heim zu dir.«
Allmählich
begann sie zu begreifen, daß er nicht zu ihr, sondern zu Melanie heimkehrte,
die singend vor Freude durchs Haus ging. Manchmal quälte sich Scarlett mit dem
schrecklichen Wunsch, Melanie möchte in Atlanta im Kindbett gestorben sein.
Dann wäre alles ganz einfach gewesen. Dann hätte sie nach schicklicher
Wartezeit Ashley geheiratet und wäre dem kleinen Kinde auch eine gute
Stiefmutter geworden. Nach solchen Gedanken betete sie jetzt nicht mehr voll
hastiger Reue zu Gott, um Ihm zu sagen, sie habe das gar nicht gemeint. Sie
fürchtete Gott nicht mehr.
Immer noch
kamen die Soldaten einzeln, in Paaren oder in Scharen an Tara vorbei, und immer
waren sie hungrig. Scarlett dachte oft verzweifelt, ein Heuschreckenschwarm
wäre ihr willkommener. Sie verfluchte den alten Brauch der Gastfreiheit, der in
der Zeit des Überflusses geblüht hatte. Kein Reisender, hoch oder niedrig, den
sein Weg über Tara führte, hatte ohne Nachtquartier, Speise für sich und sein
Pferd und alle erdenkliche Liebenswürdigkeit der Gastgeber wieder aufbrechen
dürfen. Die Zeit des Überflusses war für immer vorbei, aber immer noch wurde
jeder Soldat auf Tara aufgenommen wie ein ungeduldig erwarteter Gast.
Allmählich, da die Reihe nie enden wollte, verhärtete sich Scarletts Herz. Es
war so schwer, etwas zu essen zu bekommen, und das Geld in der Brieftasche des
Yankees reichte nicht ewig. Nur ein paar Scheine und die beiden Goldstücke
waren noch da. Der Krieg war vorüber, und vor keiner Gefahr mehr boten ihr
diese Soldaten Schutz. Deshalb befahl sie Pork, den Tisch kärglicher zu decken,
wenn Soldaten im Hause waren. Ihre Anweisungen wurden befolgt, bis sie
entdeckte, daß Melanie anfing, ihre eigenen Portionen den Heimkehrern zu geben.
»Das muß
aufhören, Melanie«, schalt sie, »du bist selbst halb krank, und wenn du nicht
mehr ißt, wirst du bettlägerig, und wir müssen dich pflegen. Die Männer halten
ein bißchen Hunger schon noch weiter aus. Sie haben es ja vier Jahre
ausgehalten.«
»Ach,
Scarlett, schilt nicht. Laß mich gewähren. Du weißt ja nicht, wieviel mir das
hilft. Jedesmal, wenn ich meinen Teil einem Hungrigen gebe, denke ich, daß
vielleicht jemand auf der Landstraße meinem Ashley auch etwas abgibt und ihm
heimhilft.«
Scarlett
wandte sich wortlos ab. Von nun an war der Tisch wieder reichlicher gedeckt,
wenn Gäste da waren, obwohl Scarlett ihnen immer jeden Bissen mißgönnte.
Eines
Tages wurde ein Knabe, auf dessen Oberlippe der blonde Flaum kaum zu sprießen
begonnen hatte, von einem berittenen Soldaten, der nach Fayetteville wollte,
vor der Haustür abgesetzt. Er hatte ihn bewußtlos am Straßenrand gefunden und
brachte ihn, quer über den Sattel gelegt, nach Tara, dem einzigen Haus in der
Nähe. Es mußte wohl einer der kleinen Kadetten sein, die aus der Militärschule
geholt worden waren, als Sherman auf Milledgeville marschierte. Aber die
Mädchen erfuhren es nie. Er starb, ohne das Bewußtsein wiederzuerlangen, und
aus dem Inhalt seiner Taschen ergab sich keinerlei Aufklärung über ihn. Es war
ein gutaussehender Junge, offenbar ein Gentleman, und irgendwo im Süden schaute
eine Mutter sich die Augen aus und wußte nicht, wo er geblieben war. Sie
begruben in auf dem Familienfriedhof neben den drei kleinen O'Haraschen Söhnen,
und Melanie weinte laut, als Pork das Grab zuschüttete, und fragte sich mit
wehem Herzen, ob vielleicht Fremde zur gleichen Stunde Ashleys Leichnam
denselben Dienst erwiesen.
Ein
anderer Soldat, namens Will Benteen, kam gleichfalls bewußtlos, quer über dem
Sattel eines Kameraden hängend, nach Tara. Er hatte eine schwere
Lungenentzündung, und als die Mädchen ihn zu Bett brachten, fürchteten sie, sie
müßten ihn bald neben dem Jungen auf dem Friedhof betten. Er hatte das
gelbliche Malariagesicht der armen Maisbauern in Süd-Georgia, verblichenes
rötliches Haar und wasserblaue Augen, die selbst in den Fieberphantasien sanft
und geduldig dreinschauten. Ein Bein war ihm unterm Knie abgenommen worden, und
an dem Stumpf war ein roh geschnitztes Holzbein befestigt. Ebenso gewiß, wie
der gestorbene Knabe der Sohn eines Plantagenbesitzers gewesen war, war dieser
Mann ein Bauer. Woran man das erkannte, ließ sich schwer sagen. Er war nicht
schmutziger, nicht struppiger und nicht verlauster als mancher Gentleman, der
nach Tara kam. Was er in seinen Phantasien redete,
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