Margaret Mitchell
sein runzeliges schwarzes
Gesicht wurde ganz schuldbewußt und bestürzt. Er zog seine vorgeschobene,
schmollende Unterlippe so schnell ein, wie die Schildkröte den Kopf unter die
Schale zieht.
»Ach, Miß
Melly, nun habe ich im Augenblick rein vergessen, wozu Miß Pitty mich
hergeschickt hat, und wichtig ist es außerdem. Ich habe einen Brief für Sie.
Miß Pitty wollte ihn der Post nicht anvertrauen und keinem anderen Menschen als
mir.«
»Einen
Brief? Von wem?«
»Miß Pitty
sagte: >Du, Onkel Peter, bringe es Miß Melly schonend bei<, sagte sie zu
mir, und ich sagte ... «
Melly fuhr
von der Stufe empor, die Hand am Herzen. »Ist Ashley tot?«
»Nein,
nein, Miß!«
Peters
Stimme erhob sich fast zu einem schrillen Geheul, als er in der Brusttasche
seines zerlumpten Rockes nach dem Brief suchte. »Er ist noch lebendig. Dies
hier ist ein Brief von ihm. Er kommt nach Hause. Allmächtiger, fang sie auf,
Mammy! Laßt mich ... «
»Finger
weg, du alter Esel«, donnerte Mammy und mühte sich, Melanies sinkenden Körper
zu halten. »Du gottverdammter schwarzer Affe! >Schonend beibringenPork, nimm sie bei den Beinen, Miß Carreen, halt ihr den Kopf fest, in den
Salon mit ihr aufs Sofa!«
In wildem
Durcheinander umschwärmte alles, außer Scarlett, die ohnmächtige Melanie.
Gleich darauf standen draußen Scarlett und Onkel Peter einander allein
gegenüber. Wie angewurzelt stand sie dort, wo sie aufgesprungen war, als sie
seine Worte vernahm, und konnte sich nicht rühren. Onkel Peters altes schwarzes
Gesicht war wie das eines kleinen Kindes, wenn es Schelte bekommt. All seine
Würde war dahin. Scarletts Herz war wie versteinert. Sie empfand weder Freude
noch Erregung. Wie aus weiter Ferne tönte Onkel Peters Stimme kläglich und
besänftigend an ihr Ohr.
»Master
Willie Burr aus Macon, der mit uns verwandt ist, hat ihn Miß Pitty gebracht.
Master Willie war in demselben Gefängnis wie Master Ashley. Master Willie hat
ein Pferd gehabt und ist schnell gekommen, aber Master Ashley muß zu Fuß
laufen.«
Scarlett
riß ihm den Brief aus der Hand. Er war von Miß Pitty an Melanie adressiert,
aber sie riß ihn unbekümmert auf, und der Zettel, den Miß Pitty beigelegt
hatte, fiel zu Boden. In dem Umschlag steckte ein Stück zusammengefaltetes
Papier, schmutzig, zerknittert und an den Ecken abgerissen. Es trug die
Anschrift von Ashleys Hand: »Mrs. George Ashley Wilkes, bei Miß Sarah Jane
Hamilton, Atlanta, oder Twelve Oaks, Jonesboro, Georgia.«
Mit
bebenden Fingern öffnete Scarlett den Zettel und las: »Geliebte, ich komme heim
zu dir ... «
Die Tränen
rannen ihr übers Gesicht, sie konnte nicht weiterlesen. Das Herz schwoll ihr so
gewaltig, daß sie die Freude nicht ertragen konnte. Sie packte den Brief,
rannte die Stufen hinauf und durch die Halle, wo alle Insassen von Tara einander
im Wege standen, weil sie sich alle um die bewußtlose Melanie bemühten, bis in
Ellens Schreibzimmer. Sie schloß die Tür hinter sich ab, warf sich auf das alte
Sofa, weinte, lachte und küßte den Brief.
»Geliebte«,
flüsterte sie, »ich komme heim zu dir.«
Der
gesunde Menschenverstand sagte ihnen, daß es, wenn Ashley keine Flügel wuchsen,
Wochen, ja Monate dauern konnte, bis er den Weg von Illinois nach Georgia
zurücklegte. Trotzdem schlugen ihre Herzen jetzt schneller, sobald ein Soldat
in die Allee nach Tara einbog. Jede bärtige, zerlumpte Vogelscheuche konnte ja
Ashley sein, und wenn es nicht Ashley selber war, so hatte er doch vielleicht
Nachrichten über ihn oder einen Brief von ihm. Der Anblick einer Uniform
genügte, daß jedermann vom Holzhaufen, von der Weide oder vom Baumwollfeld zum
Hause lief.
Einen
Monat lang nach der Ankunft des Briefes stand die Arbeit beinahe still. Niemand
wollte fern vom Hause sein, wenn Ashley ankam, am allerwenigsten Scarlett, und
sie konnte nicht darauf bestehen, daß die andern ihren Pflichten nachgingen,
wenn sie die eigenen vernachlässigte.
Als aber
die Wochen dahinschlichen und weder Ashley noch eine Nachricht von ihm kam,
verfiel Tara wieder in seinen alten Gang. Jedes Herz erträgt nur ein begrenztes
Maß von Sehnsucht. Scarlett begann sich zu ängstigen. Rock Island war so weit,
und vielleicht war er krank aus dem Lager entlassen worden. Jedenfalls hatte er
kein Geld und mußte durch ein Land wandern, wo man die Leute aus dem Süden
haßte. Wüßte sie nur, wo er sich aufhielt, dann würde sie ihm Geld schicken,
jeden Pfennig, den sie hatte, auch wenn die Familie
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