Margaret Mitchell
trostlos, unbegreiflich, versuchte
sich Scarlett hier und da an einem Wort festzuhalten, aber sie entflogen ihren
Händen alle wie scheue Vögel.
»Scarlett,
ich weiß nicht genau, wann mir zum erstenmal aufging, daß das Schattenspiel aus
war. Vielleicht in den ersten Minuten bei Bull Run, als der erste Mann, den ich
umgebracht hatte, vor meinen Augen umsank. Plötzlich fand ich mich selbst auf
der Bühne. Meine kleine innere Welt war von fremden Menschen zerstört, die mit
schmutzigen Füßen durch sie hintrampelten und mir keinen Zufluchtsort mehr
ließen. Als ich gefangen war, dachte ich, später könnte ich zurück und die
Träume und das Schattenspiel noch einmal von neuem erleben. Aber, Scarlett, es
gibt kein Zurück. Was uns jetzt bevorsteht, ist schlimmer als alles Frühere ...
Du siehst, wie ich dafür bestraft werde, daß mir bange ist.«
»Aber,
Ashley ...«, sie tappte gänzlich im dunkeln. »Wenn du Angst hast, wir könnten
verhungern ... ach, Ashley, wir schlagen uns schon irgendwie durch!«
Einen
Augenblick lang kehrten seine Augen zu ihr zurück, weit offen und kristallgrau
und von Bewunderung erfüllt. Dann entwichen sie wieder in unerreichbare Ferne,
und schweren Herzens begriff sie, daß es nicht der Hunger war, woran er gedacht
hatte. Ihr war, als sprächen sie in verschiedenen Sprachen miteinander. Aber
sie liebte ihn so sehr, daß ihr jetzt, während er wieder zurückwich, zumute
war, als ginge die Sonne unter und ließe sie in der traurigen Kälte der
Dämmerung zurück. Am liebsten hätte sie ihn bei den Schultern genommen und an
sich gezogen, damit er spüre, daß sie Fleisch und Blut war und nicht eine
Gestalt aus Büchern und Träumen. Könnte sie sich doch nur einmal eins mit ihm
fühlen! Seit jenem längst vergangenen Tage, da er aus Europa zurückkam und auf
den Verandastufen von Tara zu ihr emporlächelte, hatte sie sich danach gesehnt.
»Der
Hunger? Nein, der Hunger ist es nicht ...«, sagte er. Verzweifelt dachte
Scarlett, Melanie verstünde ihn sicher. Sie und er redeten immer solch
närrisches Zeug miteinander. Er fürchtete nicht das, was sie fürchtete, nicht
den nagenden leeren Magen, den scharfen Winterwind, nicht die Heimatlosigkeit,
wenn sie von Tara fort müßten. Ihm schauderte vor etwas anderem, wovon sie
nichts wußte.
»Ach«,
seufzte sie mit der Enttäuschung eines Kindes, das ein verheißungsvoll
eingewickeltes Paket öffnet und es leer findet. Er lächelte wehmütig, als bäte
er um Entschuldigung.
»Vergib
mir meine Worte, Scarlett. Ich kann mich dir nicht verständlich machen, weil du
nicht weißt, was Furcht heißt. Du bist beherzt wie ein Löwe und hast nicht eine
Spur von Phantasie. Um beides beneide ich dich.
Dir macht
es nichts aus, der Wirklichkeit dein Leben lang ins Gesicht zu sehen, und nie
wirst du ihr entfliehen wollen wie ich.«
Fliehen!
Das war das einzige verständliche Wort, das er gesprochen hatte. Ashley war des
Kampfes müde wie sie und wollte fliehen. Sie atmete rasch. »Ashley, du irrst
dich, ich möchte auch fliehen! Ich bin es alles so müde!«
Seine
Brauen hoben sich ungläubig. Sie legte ihm fiebernd und drängend die Hand auf
den Arm.
»Hör mich
an«, begann sie rasch, und ihre Worte überstürzten sich. »Ich sage dir, ich bin
es alles so müde, müde bis in die Knochen, und ich habe keine Lust, es länger
zu ertragen. Ich habe mich abgearbeitet, um Nahrung zu beschaffen und Geld zu
verdienen. Ich habe gejätet, gehackt und Baumwolle gepflückt. Ich habe sogar
gepflügt, bis ich beinah umfiel vor Ermattung. Ashley, mit dem Süden ist es
vorbei. Die Yankees, die Schieber und die befreiten Neger haben ihn an sich
gerissen und uns nichts mehr übriggelassen. Ashley, laß uns davonlaufen!«
Er blickte
sie scharf an und beugte den Kopf nieder, um ihr dicht in das flammende, erregte
Gesicht zu sehen.
»Ja, laß
uns davonlaufen und alles stehenund liegenlassen. Ich habe es satt, für dies
alles zu arbeiten. Es wird sich schon jemand unserer Leute annehmen. Immer
findet sich jemand, der für sie sorgt, die nicht für sich selber sorgen können.
Ashley, laß uns davonlaufen! Laß uns fort! Wir wollen nach Mexiko, wir beide
... In der mexikanischen Armee werden Offiziere gebraucht, da könnten wir so
glücklich sein. Ich will für dich arbeiten, Ashley, ich will alles für dich
tun. Melanie liebst du ja doch nicht ... « In tiefer Betroffenheit wollte er
etwas erwidern, aber sie verwehrte ihm das Wort mit dem Strom ihrer eigenen.
»Du
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