Margaret Mitchell
heiraten, und sie trug
geduldig die Maske scheinbarer Sittsamkeit und liebenswürdiger
Gedankenlosigkeit, weil nun einmal nur diese Mittel bei den Männern ihre
Wirkung taten. Darüber nachzudenken, warum das so war, reizte sie nie; sie
hatte keine Ahnung, wie es in der Menschenbrust zugeht, auch nicht in der
eigenen. Sie wußte nur eines: wenn sie dies und jenes tat und sagte, antworteten
die Männer unfehlbar mit dieser und jener Schmeichelei. Es war nicht
schwieriger als eine mathematische Formel. Mathematik war das einzige, was
Scarlett in der Schule leichtgefallen war.
Noch
weniger als vom Innenleben des Mannes wußte sie von dem der Frau, denn Frauen
interessierten sie nicht. Eine Freundin hatte sie nie gehabt und nie entbehrt.
Alle Frauen, auch ihre beiden Schwestern, waren ihre natürlichen Feinde, weil
sie dieselbe Beute verfolgten ... den Mann. Alle Frauen, mit einer einzigen Ausnahme:
ihre Mutter!
Ellen
O'Hara war anders. Scarlett betrachtete sie wie etwas Heiliges, das über allen
anderen Menschen steht. Als Kind hatte sie ihre Mutter mit der Jungfrau Maria
verwechselt, und als sie älter wurde, sah sie nicht ein, warum sie ihre Ansicht
ändern sollte. Ellen war für sie der Inbegriff der vollkommenen Ruhe, wie nur
der Himmel oder eben eine Mutter sie geben kann. Ihre Mutter war die
verkörperte Gerechtigkeit, Wahrheit, zärtliche Liebe und tiefe Weisheit - und
sie war eine vornehme Dame.
Scarlett
wollte von Herzen gern so werden wie ihre Mutter; nur gab es da eine
Schwierigkeit: wer gerecht und wahrhaftig, liebevoll und selbstlos war, dem
entgingen die meisten Freuden des Lebens und vor allem viele Verehrer. Das
Leben aber war zu kurz, als daß man so erfreuliche Dinge versäumen durfte.
Später einmal, wenn sie erst Ashleys Frau und älter war, später, wenn sie für
so etwas Zeit hatte, wollte sie so sein wie Ellen. Bis dahin ...
4
An diesem
Abend vertrat Scarlett ihre Mutter bei der Mahlzeit. Aber in ihrem Gemüt gärte
noch immer das Schreckliche, das sie über Ashley und Melanie gehört hatte. Sie
sehnte sich voller Verzweiflung danach, daß ihre Mutter von Slatterys
zurückkehren möge; ohne sie fühlte sie sich einsam und verlassen. Welches Recht
hatten Slatterys mit ihren ewigen Krankheiten, Ellen gerade heute zu
beanspruchen, wo doch sie, Scarlett, ihrer so dringend bedurfte!
Während
des trübseligen Mahles schlug ihr Geralds dröhnende Stimme schmerzhaft ans Ohr,
bis sie meinte, es nicht länger aushallen zu können. Er hatte sein Gespräch mit
ihr schon wieder vollständig vergessen und hielt jetzt einen Vortrag über die
neuesten Nachrichten aus Fort Sumter, wobei er hin und wieder bekräftigend mit
der Faust auf den Tisch schlug und mit den Armen durch die Luft fuchtelte. Er
hatte sich zur Gewohnheit gemacht, bei Tisch die Unterhaltung zu beherrschen,
und meistens saß Scarlett in ihre eigenen Gedanken versunken dabei und vernahm
kaum ein Wort. Aber heute konnte sie sich nicht gegen seine Stimme abschließen,
so angestrengt sie auch nach dem Knarren der Wagenräder aushorchte, das Ellens
Rückkehr anzeigen mußte. Natürlich hatte sie nicht die Absicht, ihrer Mutter zu
erzählen, was ihr so schwer auf dem Herzen lag. Es hätte Ellen nur befremdet
und bekümmert, zu erfahren, daß ihre Tochter einen Mann begehrte, der mit einem
anderen Mädchen verlobt war. Aber im Abgrund dieser ersten Tragödie, die ihr
widerfuhr, hätte ihr die tröstliche Gegenwart der Mutter schon viel bedeutet.
Sie fühlte sich immer geborgen, wenn Ellen bei ihr war; nichts konnte so arg
sein, daß Ellen es nicht durch ihre bloße Gegenwart gelindert hätte.
Sie fuhr
unvermutet von ihrem Stuhl empor, als sie Räder über die Auffahrt knirschen
hörte, und sank wieder zurück, als sie um das Haus herum weiterfuhren bis in
den hinteren Hof. Ellen konnte es nicht sein, denn sie wäre gleich bei der
vorderen Eingangstreppe ausgestiegen. Dann klang aufgeregtes Geplapper von
Negerstimmen und schrilles Lachen von draußen herein. Durch das Fenster
erblickte Scarlett Pork. Er hielt einen brennenden Kiefernscheit hoch, in
dessen Licht man undeutliche Gestalten vom Leiterwagen klettern sah. In der
dunklen Nachtluft schwoll das Gelächter und Geschwätze an: anheimelnde,
sorglose Stimmen, sanfte Kehllaute und helle Fisteltöne. Dann kamen Schritte
die Hintertreppe herauf und weiter durch den Flur, der zum Haupthause führte.
In der Halle vor dem Speisezimmer blieben sie stehen, ein kurzes Geflüster, und
Pork trat
Weitere Kostenlose Bücher