Margaret Mitchell
äußerte sie doch kaum je eine bestimmte Ansicht und nie
ein unfreundliches Wort. Auf einmal spürte Scarlett, daß die Wilkes und
Hamiltons eines Zornes fähig waren, der den O'Haraschen noch übertraf.
»Ich habe
es gründlich satt, die Leute über dich herziehen zu hören«, rief Melanie. »Dies
setzt allem Bisherigen die Krone auf. Es muß etwas dagegen geschehen. Alles
kommt nur daher, daß die Leute eifersüchtig auf dich sind, weil du tüchtig bist
und vorwärtskommst. Du hast es zu etwas gebracht, wo viele Männer versagt
hätten. Deshalb brauchst du nicht böse mit mir zu werden, mein Herz, ich meine
durchaus nicht, daß du dich unweiblich betragen oder emanzipiert hättest, wie
so viele behaupten. Das ist einfach nicht wahr. Die Leute verstehen dich nur
nicht. Sie können eine tüchtige Frau nicht ertragen. Aber deine Tüchtigkeit und
dein Erfolg geben ihnen noch lange nicht das Recht zu reden, du und Ashley ...
oh, ihr himmlischen Mächte!«
Die sanfte
Gewaltsamkeit dieses letzten Ausrufs hätte auf Männerlippen fast etwas
Lästerliches gehabt. Scarlett starrte Melanie an, erschrocken über einen Ausbruch,
der ihr so wenig ähnlich sah.
»Und dann
kommen sie mit den schmutzigen Lügen, die sie zusammenbrauen, zu mir ...
Archie, India und Mrs. Elsing! Wie konnten sie sich unterstehen! Mrs. Elsing
ist freilich nicht hiergewesen, dazu hatte sie natürlich nicht den Mut. Aber
sie hat dich immer gehaßt, weil du beliebter warst als Fanny. Ganz wutentbrannt
war sie, als du Hugh die Leitung der Mühle abnahmst. Aber daran hast du recht
getan, denn er ist ein kümmerlicher, untüchtiger Tagedieb!« So grausam tat
Melanie den Spielgefährten und den Verehrer ihrer Backfischjahre ab. »Archies
wegen mache ich mir bittere Vorwürfe. Ich härte dem alten Schuft kein Obdach
gewähren sollen, das haben mir alle gesagt, aber ich wollte nicht hören. Er
mochte dich nicht, Herz, wegen der Sträflinge, aber wer ist er, daß er über
dich, urteilen darf? Ein Mörder, ein Frauenmörder! Und nach allem, was ich für
ihn getan habe, kommt er und sagt mir ... Oh, ich hätte es nicht bedauert, wenn
Ashley ihn erschossen hätte. Nun, ich habe ihn seiner Wege geschickt, kann ich
dir sagen. Er hat mich kennengelernt! Er hat die Stadt verlassen. - Und India,
das niederträchtige Ding! Ach, das erstemal, da ich euch beide zusammen sah,
ist es mir nicht entgangen, wie eifersüchtig sie war und dich haßte, weil du so
viele Verehrer hattest und so viel hübscher warst als sie. Besonders Stuart
Tarletons wegen hat sie dich gehaßt. Über Stuart hat sie so lange gegrübelt -
es ist mir schrecklich, so etwas über Ashleys Schwester zu sagen, aber ich
glaube, das viele Grübeln hat ihren Sinn verstört. Anders kann ich mir ihre
Handlungsweise nicht erklären ... Ich habe ihr das Haus verboten und ihr
gesagt, wenn sie dich auf so gemeine Weise verleumdet, würde ich sie öffentlich
eine Lügnerin nennen.«
Melanie
schwieg, und plötzlich schwand der Zorn aus ihrem Gesicht, und tiefer Kummer
malte sich darin. Melanie besaß den leidenschaftlichen Familiensinn, der den
Bewohnern Georgias eigen ist. Der Gedanke an einen Familienzwist zerriß ihr das
Herz. Einen Augenblick schwankte sie, aber Scarlett hatte den ersten Platz in
ihrem Herzen inne, und so fuhr sie fort: »Sie ist auch immer eifersüchtig
gewesen, weil ich dich am liebsten habe. Sie kommt nie wieder in mein Haus, und
das Haus, das sie aufnimmt, werde ich nie betreten. Ashley stimmt mit mir darin
überein, aber es hat ihm fast das Herz gebrochen, daß seine eigene Schwester so
etwas ... «
Als
Ashleys Name fiel, gaben Scarletts überreizte Nerven nach, und sie brach in
Tränen aus. Sollte sie denn nie aufhören, ihm weh zu tun? Ihr einziger Wunsch
war immer gewesen, ihn glücklich zu machen, aber bei allem, was sie tat, fügte
sie ihm Schmerz zu. Sie hatte ihn zugrunde gerichtet, seinen Stolz und seine
Selbstachtung gebrochen und ihm den inneren Frieden und die Seelenruhe eines
unbescholtenen Charakters geraubt. Und nun hatte sie ihn seiner heißgeliebten
Schwester entfremdet! Damit Scarletts Ruf gerettet und Melanies Glück erhalten
werde, hatte India geopfert und als verlogene, eifersüchtige alte Jungfer
hingestellt werden müssen, obwohl sie mit jedem Argwohn, den sie gehegt, und
mit jedem Wort der Anklage, das sie geäußert hatte, im Recht war. Wenn Ashley
India ins Auge sah, sollte er fortan immer die Wahrheit darin erblicken, die
Wahrheit, den Vorwurf und die kalte
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