Margaret Mitchell
weh getan hatte. Melanie hatte es gewußt und
hatte doch immer als eine treue Freundin zu ihr gehalten. Ach, könnte sie doch
all die Jahre noch einmal leben! Sie würde nie wieder auch nur einen Blick mit
Ashley tauschen.
»O Gott«,
betete sie hastig, »bitte, bitte, laß sie nicht sterben! Ich will alles
wiedergutmachen. Gut will ich zu ihr sein, solange ich lebe, ich will kein Wort
mehr mit Ashley sprechen, wenn du sie nur wieder gesund machst.«
»Ashley«,
sagte Melanie wieder matt und langte mit den Fingern nach Scarletts gesenktem
Kopf. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte sie sie mit der geringen Kraft eines
kleinen Kindes am Haar. Scarlett wußte, was das zu bedeuten hatte. Sie sollte
Melanie ins Auge schauen, aber sie konnte es nicht. Sie konnte nicht Melanie an
den Augen ablesen, daß sie es wußte.
»Ashley«,
hauchte Melanie wieder. Scarlett nahm sich zusammen. Wenn sie dereinst beim
Jüngsten Gericht Gott ansah und in seinen Augen das Urteil über sich las, es
konnte nicht so furchtbar sein wie dies. Gequält hob sie den Kopf.
Sie sah
nur die immer gleichen dunklen, liebevollen Augen, die tief eingesunken und
schon vom Tode überschattet waren, den immer gleichen zarten Mund, der müde in
Schmerzen um Atem rang. Nichts von Vorwurf, nichts von Anklage, nichts von
Furcht, nur die Sorge, daß die Kraft zum Sprechen ihr schwinde.
Scarlett
war einen Augenblick zu betäubt, um auch nur eine Erleichterung zu fühlen. Dann
aber, als sie Melanies Hand fester faßte, durchflutete sie ein warmes
Dankgefühl gegen Gott, und zum erstenmal seit ihrer Kindheit sprach sie ein
demütiges uneigennütziges Gebet.
»Ich danke
dir, Gott. Ich bin es nicht wert, aber ich danke dir, daß du es sie nicht hast
wissen lassen.«
»Was ist
mit Ashley, Melly?«
»Du ...
sorgst du für ihn?«
»Ja,
gewiß.«
»Er
erkältet sich ... so leicht.« Eine Weile herrschte Schweigen.
»Kümmerst
dich um sein Geschäft ... du verstehst doch?«
»Ich
verstehe, ich helfe ihm.«
Dann, mit
großer Anstrengung:
»Ashley
ist ... so unpraktisch.«
Nur der
Tod konnte Melanie das entreißen.
»Sorge für
ihn, Scarlett ... aber ... laß es ihn niemals merken.«
»Ich sorge
für ihn, und ich sorge für sein Geschäft, und er soll es niemals merken. Nur
gute Ratschläge will ich ihm geben.«
Es gelang
Melanie, ein wenig zu lächeln, triumphierend fast, als ihre Augen Scarletts
Blicke nun wieder begegneten. So wurde der Pakt geschlossen. Eine Frau übergab
der andern die Pflicht, Ashley Wilkes vor einer allzu rauhen Welt zu
beschirmen, ohne daß er dessen innewerde und sein Mannesstolz darunter leide.
Jetzt
beruhigte sich das müde Gesicht wieder, als wäre mit Scarletts Versprechen ihre
Seele getröstet.
»Du bist
so tüchtig ... so tapfer ... warst immer so gut zu mir ...«
Da brach
sich in Scarlett das Schluchzen endlich Bahn, und sie hielt sich die Hand vor
den Mund, um es nicht hemmungslos wie ein Kind heraus zuschreien: »Ein Satan
bin ich gewesen! Bitteres Unrecht habe ich dir angetan! Für dich habe ich
nichts getan. Es war alles, alles nur für Ashley.«
Rasch
stand sie auf und grub ihre Zähne in den Daumen, um sich wieder in die Gewalt
zu bekommen. Rhetts Worte fielen ihr ein: »Sie hat dich lieb, das Kreuz mußt du
nun auf dich nehmen.« Von nun ab wog das Kreuz noch schwerer. Schlimm genug,
daß sie auf jede Art getrachtet hatte, Melanie ihren Mann wegzunehmen; nun aber
legte die Frau, die ihr, solange sie lebte, blind vertraute, ihr auch noch
sterbend die gleiche Liebe und das gleiche Vertrauen aufs Gewissen. Nein, sie
durfte nichts verraten, durfte ihr nicht einmal sagen: »Nimm alle Kraft
zusammen und bleib leben!« Kampflos und leicht, ohne Tränen, ohne Kummer mußte
sie sie scheiden lassen.
Die Tür
öffnete sich. Dr. Meade stand auf der Schwelle und winkte gebieterisch.
Scarlett unterdrückte ihre Tränen, beugte sich über das Bett und legte sich
Melanies Hand an die Wange.
»Gute
Nacht«, sagte sie ruhiger, als sie es für möglich gehalten hätte.
»Versprich
mir ...«, hauchte es ganz, ganz leise.
»Alles,
mein Liebling.«
»Kapitän
Butler ... sei gut zu ihm. Er liebt dich so sehr.«
»Rhett?«
dachte Scarlett bestürzt. Sie konnte sich nichts dabei vorstellen.
»Ja,
gewiß«, erwiderte sie mechanisch, streifte die Hand der Sterbenden leise mit
den Lippen und legte sie zurück aufs Bett.
»Sagen Sie
den Damen, sie sollen hereinkommen«, flüsterte ihr der Doktor zu, als sie zur
Tür hinausging.
Durch
Weitere Kostenlose Bücher