Margaret Mitchell
jetzt von ihrer Bäckerei
sorglos lebte, Erinnerungen austauschen zu dürfen. Zu sagen: »Wissen Sie noch,
wie wir uns den Kopf zerbrachen, woher wir ein Paar Schuhe nehmen sollten? Wie
stehen wir jetzt da!«
Ja, das
wäre schön. Jetzt begriff sie, warum zwei frühere Konföderierte, sobald sie
zusammentrafen, sich mit Genuß über den Krieg unterhalten konnten, voller Stolz
und Sehnsucht. Die Zeiten hatten die Herzen erprobt, und man war durchgekommen.
Das waren Veteranen. Auch Scarlett war eine Veteranin, aber sie hatte keine Kriegskameraden,
mit denen sie die alten Schlachten noch einmal durchleben konnte. Ach, könnte
sie doch wieder mit Menschen ihrer Art zusammen sein, die das gleiche
durchgemacht hatten und wußten, wie weh es tat - und daß es doch überhaupt erst
den Menschen ausmachte!
Aber die
Freunde waren ihr entglitten, sie wußte nicht wie. Sie erkannte, daß sie selbst
die Schuld daran trug. Bisher hatte sie nie Verlangen nach ihnen empfunden -
erst jetzt, seitdem Bonnie tot war und sie einsam und angstvoll an ihrem
spiegelnden Eßtisch einem braunen, betrunkenen Fremden gegenübersaß, der vor
ihren Augen zugrunde ging.
61
Scarlett
befand sich in Marietta, als Rhetts dringendes Telegramm kam. In zehn Minuten
ging ein Zug nach Atlanta, und sie erwischte ihn noch. Als einziges Gepäck
hatte sie ihren Pompadour bei sich. Wade und Ella ließ sie mit Prissy im Hotel
zurück.
Atlanta
war nur zwanzig Meilen entfernt. Endlos holperte der Zug durch den feuchten
Herbstnachmittag und hielt an jedem Seitenweg, um Fahrgäste aufzunehmen. Rhetts
Depesche hatte Scarlett einen Todesschrecken eingejagt. Vor Ungeduld hätte sie
bei jedem Aufenthalt laut schreien mögen. Durch die Wälder mit ihrem müden,
matten Goldton ging es nur langsam an roten Hängen vorbei, die noch immer von
Schützengräben durchschnitten waren, an alten Geschützstellungen und
unkrautverwachsenen Granattrichtern vorüber, die Straße entlang, auf der
Johnstons Leute sich Schritt für Schritt den bitteren Rückzug erkämpft hatten.
Jede Station und jede Wegkreuzung, die der Zugführer ausrief, trug den Namen
einer Schlacht, bedeutete die Stätte eines Gefechts. Früher hätten sie in
Scarlett schreckliche Erinnerungen ausgelöst, jetzt aber hatte sie keinen
Gedanken dafür übrig.
Rhetts
Telegramm hatte gelautet:
»Mrs.
Wilkes krank, sofort kommen.«
Die
Dämmerung war schon hereingebrochen, als der Zug in Atlanta einfuhr. Ein
leichter Septemberregen verhüllte die Stadt. Matt leuchteten die Gaslaternen,
gelbe Flecken im Nebel. Rhett war mit dem Wagen am Bahnhof. Der Anblick seines
Gesichts erschreckte sie noch mehr als sein Telegramm. So ausdruckslos hatte
sie es noch nie gesehen.
»Sie ist
doch nicht ...«, rief sie ihm entgegen.
»Nein, sie
lebt noch.« Rhett half ihr in den Wagen. »Zu Mrs. Wilkes, so schnell Sie
können«, sagte er zum Kutscher.
»Was fehlt
ihr denn? Ich wußte nicht, daß sie krank war. Vorige Woche sah sie noch ganz
wohl aus. Ihr ist doch nichts zugestoßen? Ach, Rhett, es kann doch nicht so
ernst sein ... «
»Sie liegt
im Sterben«, sagte Rhett, und seine Stimme war so ausdruckslos wie sein
Gesicht. »Sie möchte dich noch sehen.«
»Melly?
Nein, doch nicht Melly? Was ist denn nur mit ihr geschehen?«
»Sie hat
eine Fehlgeburt gehabt.«
»Eine
Fehlgeburt ... aber Rhett ... sie ...«, stammelte Scarlett. Auch das noch! Es
verschlug ihr den Atem.
»Hast du
denn nicht gewußt, daß sie ein Kind erwartete?«
Scarlett
konnte nicht einmal den Kopf schütteln.
»Ach ja,
sie hat es niemandem gesagt. Es sollte eine Überraschung sein. Aber ich habe es
gewußt.«
»Du
wußtest es? Sie wird es dir doch nicht erzählt haben?«
»Das
brauchte sie nicht. Ich wußte es. Sie war die letzten zwei Monate so ...
glücklich, das konnte gar keinen anderen Grund haben.«
»Aber
Rhett, der Doktor hat doch gesagt, ein zweites Kind wäre ihr Tod.«
»Es ist
auch ihr Tod«, sagte Rhett, und dann zum Kutscher: »Um Gottes willen, können
Sie nicht schneller fahren?«
»Aber
Rhett, sie kann doch nicht daran sterben! Ich habe es doch auch überlebt ... «
»Sie ist
nicht so kräftig wie du. Kraft hat sie überhaupt nie gehabt. Sie hatte immer
nur Herz.«
Mit einem
Ruck hielt der Wagen vor dem niedrigen kleinen Haus. Rhett half Scarlett
heraus. Zitternd vor Angst und plötzlich sehr einsam, faßte sie ihn am Arm.
»Du kommst
doch mit?«
»Nein«,
sagte er und stieg wieder in den Wagen.
Sie flog
die Treppe
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