Margaret Mitchell
hinauf, lief über die Veranda und stieß die Tür auf. Da standen im
gelben Lampenschein Ashley, Tante Pitty und India. Scarlett dachte: »Was hat
India hier zu suchen? Melanie hat ihr doch verboten, den Fuß je wieder über
ihre Schwelle zu setzen.« Als die drei sie erblickten, standen sie auf, Tante
Pitty biß sich auf die bebenden Lippen, um die Fassung zu bewahren. India sah
ihr tiefbekümmert und ohne Haß ins Gesicht, Ashley hatte den stumpfen Ausdruck
eines Schlafwandlers, und als er auf sie zukam und ihr seine Hand auf den Arm
legte, sprach er auch wie im Schlaf.
»Sie hat
nach dir verlangt. Sie will dich sehen.«
»Darf ich
jetzt zu ihr?« Sie ging auf die geschlossene Tür von Melanies Zimmer zu.
»Nein,
jetzt ist Dr. Meade bei ihr. Gut, daß du gekommen bist.«
»So
schnell ich konnte.« Scarlett legte Hut und Mantel ab. »Der Zug ... ist sie
denn wirklich ... es geht ihr doch besser, nicht wahr, Ashley? So rede doch!
Mach nicht solch Gesicht! Sie ist doch nicht ernstlich ...«
»Sie hat
immer wieder nach dir gefragt.« Ashley schaute ihr in die Augen, und in seinen
Blicken las sie die Antwort auf ihre Frage. Das Herz stand ihr still, dann hub
etwas in ihrer Brust an zu hämmern, eine sonderbare Furcht, stärker als Angst,
stärker noch als das Leid. »Es kann nicht wahr sein!«, dachte sie ungestüm und
suchte die Furcht zurückzudrängen. »Ein Arzt kann sich irren, es kann nicht,
wahr sein, ich kann es nicht glauben. Sonst müßte ich ja schreien. Ich muß an
etwas anderes denken.«
»Es ist
nicht wahr«, sagte sie heiser und blickte in die drei eingefallenen Gesichter,
als fordere sie sie zum Widerspruch auf. »Warum hat Melanie es mir nicht
gesagt? Hätte ich es gewußt, ich wäre niemals nach Marietta gegangen.«
Da wachten
Ashleys Augen auf und blickten gequält vor sich hin.
»Sie hat
es keinem erzählt, Scarlett, dir am allerwenigsten. Sie fürchtete, du würdest
schelten. Sie wollte warten, bis keine Gefahr mehr wäre, und euch dann alle
überraschen und die dummen Ärzte auslachen. Sie war so glücklich. Du weißt ja,
wie ihr Herz daran hing, wie sie sich ein kleines Mädchen wünschte. Alles ging
ja so gut, bis ... und ohne jeden Grund kam dann ... «
Leise
öffnete sich die Tür zu Melanies Zimmer. Dr. Meade kam heraus und schloß sie
wieder. Einen Augenblick stand er stumm da - den grauen Bart tief auf die Brust
gesenkt, und sah die vier Menschen an, die, als die Tür ging, zu erstarren
schienen. Zuletzt fiel sein Blick auf Scarlett Als er ihr entgegenkam, sah sie
den Gram in seinen Augen, dazu Widerwillen und Verachtung, und schuldbewußt
pochte ihr das erschrockene Herz.
»Da sind
Sie endlich«, sagte er.
Ehe sie
antworten konnte, ging Ashley auf die geschlossene Tür zu.
»Noch
nicht«, sagte Dr. Meade. »Sie will erst Scarlett sprechen.«
»Doktor«,
sagte India und legte ihm die Hand auf den Arm. Ihre Stimme war ganz tonlos und
wirkte dabei noch flehender als ihre Worte.
»Lassen
Sie mich einen Augenblick zu ihr. Seit heute morgen bin ich hier und warte ...
lassen Sie mich einen Augenblick hinein, ich will ihr sagen, ich muß ihr sagen,
daß ich unrecht gehabt habe ... «
Sie sah
dabei weder Ashley noch Scarlett an. Dr. Meade warf einen kalten Blick auf
Scarlett.
»Wir
wollen sehen, Miß India«, sagte er kurz. »Aber nur, wenn Sie mir Ihr Wort
geben, daß Sie sie nicht mit Ihrem Bekenntnis anstrengen werden. Sie weiß, daß
Sie unrecht hatten, und es beunruhigt sie nur, wenn Sie sie deshalb um
Verzeihung bitten.«
Pitty fing
schüchtern an: »Bitte, Dr. Meade ...«
»Miß
Pitty, Sie schreien mir ja nur und fallen in Ohnmacht.«
Pitty
reckte die rundliche kleine Gestalt und gab dem Doktor seinen Blick zurück.
Keine Träne war in ihren Augen, sie war ganz Würde.
»Also gut,
Kind, aber einen Augenblick noch«, sagte der Doktor freundlicher. »Kommen Sie,
Scarlett.«
Auf
Zehenspitzen gingen sie durch die Halle nach der geschlossenen Tür. Da packte
der Doktor Scarlett fest an der Schulter.
»Hören Sie
zu, meine Beste«, flüsterte er kurz, »daß Sie mir keine Szene machen, keine
Geständnisse am Totenbett, oder, bei Gott, ich drehe Ihnen den Hals um. Sehen
Sie mich nicht so unschuldig an, Sie wissen, was ich meine. Miß Melly soll
leicht hinübergehen, Sie aber brauchen sich nicht Ihr Gewissen dadurch zu
erleichtern, daß Sie ihr etwas über Ashley sagen. Von mir hat noch keine Frau
etwas auszustehen gehabt, aber wenn Sie jetzt nicht den Mund halten, bekommen
Sie
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