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Margaret Mitchell

Margaret Mitchell

Titel: Margaret Mitchell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vom Winde verweht
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den
Schleier ihrer Tränen sah sie India und Pitty ihm in das Krankenzimmer folgen,
die Röcke eng an sich gedrückt, damit sie nicht raschelten. Die Tür schloß sich
hinter ihnen. Das Haus war ganz still. Von Ashley war nichts zu sehen. Wie ein
ungezogenes Kind, das in die Ecke gestellt ist, legte Scarlett den Kopf an die
Wand und preßte die Hand gegen die schmerzende Kehle.
    Dort
hinter der Tür ging nun Melanie dahin und mit ihr die Kraft, auf die sie sich
die vielen Jahre verlassen hatte, ohne es zu wissen. Warum erkannte sie erst
jetzt, wie sehr sie Melanie liebte und brauchte? Wer hätte auch in dieser
kleinen unscheinbaren Frau eine Säule der Kraft vermutet? In Melanie, die vor
Fremden bis zu Tränen schüchtern war und sich scheute, auch nur ihre eigene
Meinung laut zu äußern, die sich fürchtete, alten Damen zu mißfallen, Melanie,
die nicht den Mut hatte, eine Gans zu verscheuchen? Und dennoch ...
    Im Geiste
versetzte sich Scarlett um Jahre zurück in den stillen heißen Nachmittag auf
Tara, da der graue Pulverdampf über einer Leiche im blauen Rods schwebte und
Melanie mit Charles' schwerem Säbel in der Hand oben an der Treppe stand. Es
fiel Scarlett wieder ein, wie sie damals gedacht hatte: »Zu dumm! Sie kann den
Säbel nicht einmal aus der Scheide ziehen!« Aber jetzt wußte sie, wäre es nötig
gewesen, Melanie wäre die Treppe hinuntergestürzt und hätte den Yankee
erschlagen oder wäre selber dabei umgekommen.
    Ja, damals
hatte Melanie mit dem Säbel in der kleinen Faust bereitgestanden, um für sie zu
kämpfen.
    Und jetzt,
da sie trauervoll zurücksah, erkannte Scarlett, wie Melanie immer mit dem
Schwerte in der Hand neben ihr gestanden hatte, so selbstverständlich wie ihr
eigener Schatten, wie sie sie liebgehabt und mit blinder, leidenschaftlicher
Treue für sie gekämpft hatte gegen die Yankees, gegen Feuer, Hunger und Armut,
gegen das Urteil der Menschen und sogar gegen die eigene geliebte Familie.
    All ihren
Mut und ihr Selbstvertrauen fühlte Scarlett langsam verrinnen, als ihr aufging,
daß das Schwert, das sie vor der Welt geschützt hatte, jetzt auf immer in der
Scheide stak.
    »Melanie
ist meine einzige Freundin gewesen«, dachte sie in ihrer Verlassenheit, »neben
Mutter die einzige Frau, die mich wirklich geliebt hat. Und sie ist auch wie
Mutter. Jeder, der sie kannte, hat sich ihr an den Rock gehängt.«
    Auf einmal
war ihr, als läge Ellen dort hinter der verschlossenen Tür und verließe die
Welt zum zweitenmal. Sie stand wieder auf Tara, und die Welt brandete um sie
her. Sie aber war untröstlich in der Erkenntnis, daß sie dem Leben nicht
gewachsen war ohne die unerklärliche und unüberwindliche Kraft der Schwachen,
Sanften und Zarten.
    Unschlüssig
und angstvoll stand sie in der Halle. Vom Wohnzimmer her warf das flackernde
Kaminfeuer große trübe Schatten auf die Wände ringsum. Kein Laut ließ sich
hören. Die Stille drang in sie ein wie feiner eisiger Regen. Ashley! Wo war
Ashley?
    Sie ging
ins Wohnzimmer wie ein frierendes Tier, das das Feuer sucht, aber er war nicht
da. Sie mußte ihn finden. Melanies Kraft hatte sie erst entdeckt in dem
Augenblick, da sie sie verlor, aber Ashley war noch da. Ashley war stark und
weise, bei ihm war Trost. In Ashley und seiner Liebe lag die Kraft, an die sich
ihre Schwäche lehnen konnte, der Mut, der ihre Angst beruhigte, die Linderung
für ihren Gram.
    Er mußte
wohl in seinem Zimmer sein. Auf Zehenspitzen ging sie durch die Halle und
klopfte leise an. Da keine Antwort erfolgte, öffnete sie die Tür. Ashley stand
am Toilettentisch und betrachtete ein Paar von Melanies geflickten Handschuhen.
Zuerst nahm er den einen und schaute auf ihn, als hätte er ihn noch nie
gesehen, dann legte er ihn sachte wieder hin, als wäre er aus Glas, und nahm
den anderen zur Hand.
    Mit
bebender Stimme sagte sie: »Ashley.« Er wendete sich langsam um und sah sie an.
Alle seine verträumte Unnahbarkeit war aus seinen grauen Augen verschwunden,
sie waren weit geöffnet und trugen keine Maske, Angst sah sie darin, die ihrer
eigenen glich, Hilflosigkeit, die noch schwächer war als die ihre, tiefere
Ratlosigkeit, als sie selbst je empfunden hatte. Das Grauen, das sie soeben
verspürt, verstärkte sich, als sie sein Gesicht sah. Sie trat zu ihm.
    »Mir ist
bange«, sagte sie. »Ach, Ashley, halte mich, mir ist so bange!«
    Er wendete
sich ihr nicht zu, er starrte vor sich hin und packte den Handschuh fest mit
beiden Händen. Sie legte ihm die Hand auf den

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