Margos Spuren
»Ich wollte anders aussehen, aber – jetzt sehe ich einfach nur doof aus.«
»Mir gefällt es«, sage ich. »Es umrahmt dein Gesicht.«
»Tut mir leid, wenn ich unverschämt war«, sagt sie. »Aber du musst das verstehen. Ich meine, aus heiterem Himmel hier reinzumarschieren – ihr habt mir einen Riesenschrecken eingejagt …«
»Du hättest einfach sagen können : ›Hey, Leute, ihr jagt mir einen Riesenschrecken ein‹«, sage ich.
Sie schnaubt. »Ja, ganz bestimmt, weil das die Margo Roth Spiegelman ist, die jeder kennt und liebt.« Einen Moment ist sie still, dann sagt sie : »Ich wusste, ich hätte den Kommentar auf Omnictionary weglassen sollen. Aber ich fand die Vorstellung lustig, wenn ihn später mal jemand liest. Ich dachte, die Polizei findet ihn vielleicht irgendwann, aber nicht rechtzeitig. Ich meine, auf Omnictionary gibt es eine Milliarde Seiten oder so. Ich hätte nicht gedacht …«
»Was?«
»Ich habe viel an dich gedacht, um deine Frage zu beantworten. Und an Ruthie. Und an meine Eltern. Natürlich habe ich an euch gedacht, okay? Vielleicht bin ich die mieseste, selbstsüchtigste Schlampe der Weltgeschichte. Aber, Mann, meinst du denn, ich hätte das alles getan, wenn es nicht absolut notwendig gewesen wäre?« Sie schüttelt den Kopf. Jetzt, endlich, dreht sie sich in meine Richtung, die Ellbogen auf den Knien, und wir unterhalten uns. Auf Distanz, aber immerhin. »Es gab einfach keine andere Möglichkeit abzuhauen, ohne die Gefahr, dass sie mich wieder zurückschleppen.«
»Ich bin froh, dass du nicht tot bist«, sage ich.
»Ja. Ich auch.« Sie grinst, und es ist das erste Mal, dass ich das Lächeln sehe, das ich so lange vermisst habe. »Deswegen musste ich weg. So schlimm das Leben manchmal ist, es ist immer besser als die Alternative.«
Mein Telefon klingelt. Es ist Ben. Ich gehe ran.
»Lacey will mit Margo reden«, sagte er zu mir.
Ich gehe zu Margo, reiche ihr das Telefon und stehe dabei, während sie mit hängenden Schultern dasitzt und zuhört. Ich höre das Gemurmel aus dem Telefon, dann unterbricht Margo sie und sagt : »Hör zu, Lacey, es tut mir wirklich leid. Ich war nur so erschrocken.« Dann ist es still. Irgendwann fängt Lacey wieder zu reden an, und Margo lacht und sagt etwas. Ich habe das Gefühl, die beiden brauchen Zeit für sich, und so mache ich einen Rundgang. Am anderen Ende der Wand hat Margo sich eine Art Bett gebaut – vier Gabelstaplerpaletten, auf denen eine orangene Luftmatratze liegt. Auf einer Palette daneben liegen ordentlich gefaltet die paar Kleider, die sie mitgenommen hat. Außerdem sind da eine Zahnbürste, eine Zahnpastatube und ein Plastikbecher von Subway. Darunter zwei Bücher : Die Glasglocke von Sylvia Plath und Schlachthaus 5 von Kurt Vonnegut. Ich finde es unglaublich, dass sie so lebt, diese unvereinbare Mischung aus braver Ordnung und schockierender Verwahrlosung. Andererseits ist es auch unglaublich, wie viel Zeit ich darauf verschwendet habe, mir vorzustellen, dass sie irgendwie anders lebt.
»Sie sind in einem Motel im Nationalpark. Lacey lässt ausrichten, sie fahren morgen früh zurück, mit dir oder ohne dich«, sagt Margo hinter mir. Als sie von mir redet statt von uns, muss ich zum ersten Mal daran denken, was nach heute kommt.
»Ich bin mehr oder weniger Selbstversorger«, erklärt sie, als sie neben mir steht. »Es gibt ein Klohäuschen, aber es ist in keinem guten Zustand, so dass ich meistens den Waschraum in dieser Fernfahrerraststätte östlich von Roscoe benutze. Da gibt es auch Duschen, und die Mädchendusche ist sogar ziemlich sauber, weil es nicht besonders viele weibliche Fernfahrer gibt. Außerdem haben sie da Internetanschluss. Hier wohne ich, und die Raststätte ist mein Strandhaus.« Ich lache.
Sie geht an mir vorbei, kniet sich hin und späht in die Paletten unter dem Bett. Dann fischt sie eine Taschenlampe und einen flachen Plastikkasten heraus. »Das sind die einzigen Sachen, die ich mir den ganzen Monat geleistet habe, außer Benzin und Essen.« Ich nehme ihr den Plastikkasten ab und sehe, dass es ein batteriebetriebener Plattenspieler ist. »Ich hab ein paar Alben mitgebracht«, sagte sie, »aber in der City besorge ich mir noch mehr.«
»In der City?«
»Ja. Ich siedle heute nach New York über. Deswegen der Omnictionary-Kommentar. Jetzt geht die Reise erst richtig los. Ursprünglich sollte heute der Tag sein, an dem ich Orlando verlasse – ich wollte zur Zeugnisverleihung gehen, und dann
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