Margos Spuren
andererseits, vielleicht habe ich ihre Augen noch nie richtig gesehen. Sie starrt mich an. Ich bin mir sicher, dass sie mich anstarrt, und nicht Lacey oder Ben oder Radar. Ich habe mich nicht mehr so angestarrt gefühlt, seit Robert Joyners tote Augen mich im Jefferson Park angesehen haben.
Eine lange Zeit steht sie schweigend da, und ich habe solche Angst vor ihren Augen, dass ich nicht weitergehe. »Ich und das Geheimnis, hier stehen wir«, schreibt Whitman.
Endlich sagt sie etwas. »Wartet fünf Minuten.« Dann setzt sie sich wieder und schreibt weiter.
Ich beobachte sie beim Schreiben. Außer dass sie ein bisschen schmuddelig ist, sieht sie genauso aus wie immer. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie hatte ich erwartet, sie würde anders aussehen. Älter. Dass ich sie kaum erkennen würde, wenn ich sie wiedersehe. Aber da sitzt sie, und ich beobachte sie durch die Plexiglasscheibe, und sie sieht aus wie Margo Roth Spiegelman, das Mädchen, das ich kenne, seit ich zwei bin – das Mädchen, das die Vorstellung war, in die ich verliebt war.
Erst als sie ihr kleines schwarzes Buch zuschlägt und es in einem Rucksack verstaut und dann aufsteht und auf uns zukommt, merke ich, dass meine Vorstellung nicht nur falsch, sondern gefährlich ist. Was für ein heimtückischer Fehler zu glauben, ein Mensch wäre mehr als ein Mensch.
»Hey«, sagt sie zu Lacey und lächelt. Zuerst umarmt sie Lacey, dann schüttelt sie Ben die Hand und dann Radar. Dann zieht sie die Brauen hoch und sagt : »Hi, Q«, und umarmt mich, schnell, nicht sehr fest. Ich will sie festhalten. Ich will, dass etwas passiert. Ich will, dass sie das Gesicht an meine Brust presst und schluchzt, dass ihre Tränen über ihr staubiges Gesicht auf mein T-Shirt fallen. Doch sie umarmt mich nur schnell und setzt sich dann auf den Boden. Ich setze mich vor sie, und Ben und Radar und Lacey setzen sich in eine Reihe neben mich, so dass wir alle Margo ansehen.
»Schön, dich zu sehen«, sage ich nach einer Weile.
Sie scheint genau abzuwägen, was sie sagt, bevor sie es sagt. »Ich … Also. Hm. Kommt nicht oft vor, dass mir die Worte fehlen, oder? Habe nicht viel mit Leuten gesprochen in letzter Zeit. Hm. Ich schätze, vielleicht fangen wir damit an : Was zur Hölle wollt ihr hier?«
»Margo«, sagt Lacey. »Gott, wir haben uns solche Sorgen gemacht.«
»War nicht nötig«, antwortet sie trocken. »Mir geht es gut.« Sie hält die Daumen hoch. »Alles roger!«
»Du hättest anrufen und uns das sagen können«, sagt Ben, dem der Frust anzuhören ist. »Dann hätten wir uns die Höllentour sparen können.«
»Meiner Erfahrung nach, blutiger Ben, ist es am besten, auch ganz zu verschwinden, wenn man schon mal abhaut. – Wie kommt es, dass du ein Kleid anhast?«
Ben wird rot. »Nenn ihn nicht so«, zischt Lacey.
Margo sieht Lacey scharf an. »Um Himmels willen, du hast dich mit dem Milchgesicht eingelassen?« Lacey schweigt. »Ihr seid doch nicht zusammen, oder?«
»Doch, das sind wir«, sagt Lacey. »Und er ist großartig. Und du bist eine blöde Ziege. Ach, und ich gehe jetzt wieder. War nett dich wiederzusehen, Margo. Danke, dass du mir eine Höllenangst eingejagt hast und mir den letzten Monat meines letzten Schuljahrs verdorben hast. Und dass du so ätzend bist, wo wir dich endlich gefunden haben, nur weil wir wissen wollten, ob es dir gut geht. War echt ein Vergnügen, dich kennengelernt zu haben.«
»Ganz meinerseits. Ich meine, wenn du nicht wärst, wer hätte mir dann je gesagt, dass ich fett bin?« Lacey steht auf und stampft hinaus. Ihre Schritte vibrieren auf dem morschen Boden. Ben geht ihr hinterher. Ich sehe mich um. Auch Radar ist aufgestanden.
»Ich habe dich nie richtig gekannt, bis ich versucht habe, deine Hinweise zu entziffern«, sagte er. »Und ehrlich gesagt, ich mag deine Hinweise lieber als dich.«
»Wovon zum Henker redet der?«, fragt Margo mich. Radar antwortet nicht. Er geht einfach.
Was ich natürlich auch tun sollte. Sie sind meine Freunde – auf jeden Fall mehr als Margo. Aber ich habe noch ein paar Fragen. Als Margo aufsteht und zurück zu ihrer Bürobox geht, fange ich mit der naheliegenden an. »Warum bist du so unverschämt?«
Sie wirbelt herum und packt mich am Hemd und schreit mir ins Gesicht : »Wie kommst du dazu, ohne Vorwarnung einfach so hier aufzukreuzen?!«
»Wie hätte ich dich vorwarnen können, wenn du dich einfach in Luft aufgelöst hast?« Ich sehe, wie sie blinzelt, woran ich erkenne, dass sie
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