Maria, ihm schmeckts nicht!
Nach
einigen Wochen hatte er eingesehen, dass er hier in Osnabrück weiter von New York entfernt war als
jemals zuvor, und holte das Bild aus dem Koffer, das er sich in Kopfnähe neben dem Bett an die Wand
klebte.
Immerhin: Heimweh hatte er nicht. Nicht im Ge-
ringsten. Nach zwei Wochen hatte er – wohlweislich
ohne Absender, um das Militär nicht auf seine Spur
zu bringen – seiner Mutter einen Brief geschrieben
und versucht, ihr darin zu erklären, dass er sie habe verlassen müssen, um hier in Deutschland sein Glück zu suchen. Es war der erste einer ganzen Reihe von
Briefen, die er alle paar Wochen Richtung Heimat
schickte. Er konnte zwar keine Post empfangen, aber seine eigenen Zeilen halfen ihm über seine Unzufrie-denheit hinweg, denn in seinen Berichten schönte er die Lage beträchtlich, schrieb von einer komfortablen Wohnung und großartigen Plänen, die der Betrieb
schon jetzt mit ihm habe. Er berichtete von den
eleganten Straßen der Stadt und der hervorragenden
Verpflegung, die der in der Heimat in nichts
nachstehe. In Wahrheit hasste er nichts mehr als die verkochte Pampe, die man hier Pichelsteiner Eintopf nannte, und das Vierbettzimmer, in dem die Spanier
bis spät in die Nacht ihr Geld versoffen und dann
mit ihm Streit suchten. Antonio ging keiner
Auseinandersetzung aus dem Weg. Wer sich mit ihm
anlegte, musste damit rechnen, auf einen harten und hemmungslosen Gegner zu treffen. Wut und Frust
bahnten sich ihren Weg und so knallte es fast jeden Abend in einem der Zimmer.
Inzwischen hatte er Landsleute entdeckt, die aus
Kalabrien und Apulien stammten und in ihrem
Zimmer ein gutes ragù zustande brachten. Manchmal gingen die Männer gemeinsam aus, wenn das
Wochenende Langeweile verhieß, und erkundeten
das Nachtleben von Osnabrück. Zu Hause hatte er
vor einigen Monaten die Bibliothek aufgesucht und
diesen Ort im Atlas nicht einmal gefunden, nun
wohnte er hier und wurde bestaunt wie ein Exot.
Die deutschen Mädchen gefielen ihm, besonders
der blasse Teint und die freundliche Neugier, mit der sie ihm zuhörten, wie er auf Italienisch aus seinem Leben erzählte, irgendwas daherplapperte. Es waren
der Klang seiner Stimme und die blauen Augen, die
die Mädchen fesselten. Bald verliebte er sich in eine junge Frau, deren Name Monika war und die in der
Fabrik in der Buchhaltung arbeitete. Nachdem sie
sich zwei Wochen mehr oder weniger heimlich mit-
einander getroffen hatten – zwei Wochen, in denen
sie meist ohne Worte zu gebrauchen in der inter-
nationalen Sprache der Liebe kommuniziert hatten –, machte Antonio die Bekanntschaft ihres Verlobten,
der naturgemäß ihrer Verbindung skeptisch gegen-
überstand.
Irgendeiner aus dem Wohnheim hatte dem Mann
etwas von Monikas Verhältnis gesteckt, und der
Mann, ein grobmotorischer Tankwart namens Heinz,
lauerte Antonio auf, als dieser von der Schicht kam und gerade das Wohnheim betreten wollte.
»Was machst du mit meiner Frau?!«, schrie er den
ahnungslosen Toni an.
»Nix verstehen.« Das war keine Lüge.
»Kennst du eine Monika?«
»Nein, nicht kenne.« Das war eine Lüge.
»Ich zeige dir, was mit euch Scheißern passiert,
wenn ihr eine deutsche Frau anfasst!«, brüllte der
Kerl und hieb Antonio zweimal trocken auf die Nase, die sofort brach. Antonio hätte diesen Burschen in
Stücke reißen können. Er hätte die Tankstelle anzünden und auf das Grab dieses Hurensohnes pissen
können. Er wusste, dass er mehr Kraft hatte als dieser Wurm und mehr Courage ohnehin. Zu Hause in
Campobasso wäre der Kerl erledigt gewesen. Aber
hier war Antonio erledigt. Schon während ihm das
Blut übers Gesicht schoss, war ihm klar, dass eine
Schlägerei mit einem Deutschen, gleich aus welchem
Grund, seine Ausreise zur Folge haben würde. Also
ließ er das Blut auf sein Hemd tropfen, ertrug das
Gelächter der Spanier und schluckte seine Rachege-
fühle herunter.
An dem Abend, an dem Heinz Krawczyk aus Os-
nabrück ihm die Nase brach, lag Antonio auf seinem
Bett und weinte. Er weinte, weil ihm jemand sein
Bild von New York von der Wand gerissen hatte. Er
weinte, weil er die Demütigung durch diesen Mann
ertragen musste. Er weinte, weil Monika nicht auf-
richtig zu ihm gewesen war (eine Schmähung, die
ihm, der gegenüber Frauen niemals aufrichtige Ge-
fühle entwickelte, besonders zusetzte). Er weinte,
weil er ahnte, dass er in diesem Karosseriewerk niemals den Posten würde erklimmen können, den er
laut seiner
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