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Maria, ihm schmeckts nicht!

Maria, ihm schmeckts nicht!

Titel: Maria, ihm schmeckts nicht! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
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Briefe längst innehatte. Und er weinte, weil ihm die Nase wehtat.
    In dieser schlaflosen Nacht, in der sein Herz so
    heftig und laut schlug, dass er fürchtete, die irren Spanier könnten davon aufwachen und ihn sich
    ebenfalls vornehmen, beschloss Antonio Marcipane
    seine nächste Flucht. Es war ihm vollkommen gleich-
    gültig, wohin es ihn verschlug, denn einen Platz wie diesen würde er allemal und überall finden. Das
    Zimmer in diesem Schweinestall kostete ihn vierzig
    Mark pro Monat. Die Dusche per Minute ein Gro-
    schen. Strom fürs Kochen oder Licht: alle zehn Mi-
    nuten ein Groschen.
    Wie beim ersten Mal nahm sich Antonio Zeit und
    erkundete die Möglichkeiten, die sich ihm boten. Sie schienen begrenzt, er hatte absolut keine Idee oder auch nur eine vage Vorstellung davon, wo er in diesem Land hingehen konnte. Also arbeitete Antonio zu-nächst unauffällig weiter, wie es sein Vater früher getan hatte, wenn er mit einem Apfel als Proviant in der Hand losgezogen war, um die Bomben zu
    entschärfen, die auf anderer Leute Häuser gefallen
    waren und die zu berühren diese zu feige oder zu
    reich waren. Damals hatte er seinen Vater immer
    bewundert, sich jedoch auch stets gefragt, warum
    dieser so duldsam mit jeder Schmähung umging, die
    er als Zugereister ertragen musste. Inzwischen ver-
    stand er ihn.
    Wie Calogero war auch Antonio Marcipane ein
    Fremder, ein Ausgestoßener, der die Arbeit machte,
    die andere nicht wollten. Und wie Calogero begann
    er, darin eine Art Lebenszweck zu sehen, das Un-
    ausweichliche dieser Situation zu akzeptieren. Doch eines unterschied ihn von seinem Vater: Während
    dieser sich früh mit seinem Status als Außenseiter
    abgefunden und ihn sozusagen zur Familientradition
    erklärt hatte, wollte Antonio diesem Schicksal ent-
    kommen. Die Frage war nur: Wie? Und die Antwort,
    die sich Antonio ergrübelte, lautete: Wenn die grausame Realität dieses Lebens dazu führte, dass man
    ihm die Knochen und die Seele brach, dann, so be-
    schloss er, würde er eben nicht mehr an dieser
    Realität teilnehmen. Dann würde er eben in seinem
    eigenen Universum leben, in der Welt des Antonio
    Marcipane. Nichts konnte ihn mehr aufhalten, wenn
    er die Schranken, die sich ihm in den Weg stellten, nicht mehr wahrnahm. Antonio beschloss, seine eigene Perspektive auf die Welt als die einzig wahrhafti-ge anzuerkennen, ihr keine weitere Sichtweise mehr
    abzugewinnen als die seine, so verschoben und un-
    wirklich sie für die anderen Menschen auch sein
    mochte.

    »Also, eigentlich hast du dich entschlossen, verrückt zu werden«, schiebe ich ein. So allmählich wird mir einiges klar.
    »Nein, nichte verruckt. Binni verruckt? Freche Kerl. Ich bin nichte verruckt, sondern habbe nur eine ganz individuelle Sichte der Dinge. Iste eine philoso-phische Frage.«
    Daniele schüttelt den Kopf. »Wenn ihr mich fragt«,
    sagt er, dem das Niveau der Unterhaltung nicht
    gefällt, »der Andò hatte schon immer einen Dach-
    schaden.« Dann trollt er sich hinter die Bar.
    »Nein, stimmt gar nicht!«, ruft Antonio und flüstert mir dringlich zu: »Es hatte alles seine Sinn, machte mir möglich, in diese Welt zu überleben.«

    Seine Überlebensstrategie, die er bis heute weiter-
    verfolgt, manifestierte sich schnell in einer uner-
    klärlichen Heiterkeit. Im Gegensatz zu den Kumpels
    schien ihm die Arbeit leichter von der Hand zu gehen, er verrichtete sein Tagwerk fröhlich und erstaunte
    damit sogar die deutschen Vorarbeiter, die seine gute Grille auf das berühmte italienische Temperament
    zurückführten, das sie allerdings nur von (dem aus
    der Schweiz kommenden) Vico Torriani kannten.
    Im Gegensatz zu seinen Zimmergenossen schickte
    Antonio kein Geld in die Heimat. Er hatte es dem
    Vermieter zur Aufbewahrung gegeben und leistete
    sich dann und wann eine Hose oder einen Kinobe-
    such, was besonders die beiden Spanier, die Kinder
    zu versorgen hatten, grämte. Der einzige Mensch, für den Antonio so etwas wie freundschaftliche Gefühle
    empfand, war der dumme Ugo.
    Der dumme Ugo stammte aus der Toskana und
    offenbar waren ihm ein paar Kastanien zu viel auf
    den Kopf gefallen. Trotzdem hatte er beim Auslands-
    dienst die Erlaubnis bekommen, nach Deutschland
    zu reisen, was sich Antonio nur mit Korruption
    erklären konnte, für die Ugo wiederum nicht klug
    genug gewesen wäre. Wahrscheinlich hatten sich
    seine Eltern auf diese Weise ihres Sohnes entledigt.
    In Osnabrück angekommen, fiel schnell auf, dass
    Ugo sogar zu

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