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Maria, Mord und Mandelplätzchen

Maria, Mord und Mandelplätzchen

Titel: Maria, Mord und Mandelplätzchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stöger
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dass ich mich ausruhe. Und ich habe ihm auch versprochen, dass ich mich von der Frau fernhalte. Aber ich war heute Morgen bei ihr, bevor sie zur Arbeit fuhr. Ich stellte mich einfach vor ihre Haustür und klingelte. Sie öffnete die Tür, eine Kaffeetasse in der Hand, und lächelte. Dann sah sie mich und lächelte nicht mehr. Ihr Gesicht verzerrte sich, die Tasse fiel zu Boden und zersprang. Ich hörte mich sagen: »Dora«, weil mir dieser Name einfiel. Sie knallte die Haustür zu. Ich klingelte wieder. »Verschwinde!«, brüllte sie von drinnen. Ich nahm den Finger nicht mehr von der Klingel und wartete. Dann ging die Tür mit einem Ruck auf. Nur hatte sie diesmal keine Kaffeetasse in der Hand, sondern einen Hammer. Ich sah Wut und Hass in ihren Augen. Und ganz große Angst. Ohne ein weiteres Wort hob sie den Hammer und schwang ihn nach mir. Ich duckte mich gerade noch weg, so dass sie meinen Kopf nicht erwischte. Aber sie traf mich an der Schulter. Sie startete einen zweiten Angriff, wieder konnte ich nur knapp ausweichen. Dann hörte ich einen Schrei, der nicht von ihr kam. Er ließ sie in der Bewegung erstarren. Sie sah in die Richtung, aus der er kam. Ich trat ihr gegen das Knie, sie knickte ein. Ich rannte auf die Straße, so schnell ich konnte. Dort stand Kalle und schrie immer noch. Als ich mich umdrehte, hatte sie die Tür schon wieder hinter sich geschlossen. »Die Verrückte hat versucht, dich umzubringen!«, keuchte Kalle und tastete meine Schulter ab. »Deine Schulter ist okay. Nichts gebrochen. Der Schlag ist wohl abgerutscht. Aber es wird ein riesiges Hämatom geben.« Ich sah ihn an. »Warst du mal Arzt?« Kalle lachte, aber ich wusste, dass ich recht hatte. Er brachte mich zu dem leeren Restaurant, wickelte mich in die warme Decke, die er mir besorgt hatte, und gab sein letztes Geld aus, um im Café gegenüber einen warmen Tee zu bekommen.
    Kalle ist immer noch hier, er will über Nacht bleiben. Vorhin ist er eingeschlafen.
    Als es dunkel wurde, hat es aufgehört zu schneien.
    24 .  12 .  11
    Ich habe nicht geschlafen.
    Morgens um vier habe ich es nicht mehr ausgehalten. Kalle schnarchte friedlich vor sich hin, ich deckte ihn mit der warmen Decke zu und ging zu ihrem Haus. Überall liegt so hoher Schnee, sie kommen gar nicht hinterher mit dem Räumen. Ich mag den Schnee. Jedenfalls den frischen Schnee. Nicht den braunen Schnee, der schon angetaut ist und herumliegt wie etwas, das alle weghaben wollen, das aber von selbst nicht gehen will und sich festklammert wie ein verschmähter Liebhaber. Ich mag den weißen, frischen Schnee, weil alles so hübsch aussieht. Man sieht keinen Dreck mehr, keine Löcher in der Straße, keine ungepflegten Gärten, keine kranken Bäume. Die ganze Welt klingt anders, wenn überall Schnee liegt. Ihr Haus lag ganz friedlich da. Ich sah als Erstes in die Garage, ob ihr Wagen drinstand. Wie ich es mir schon gedacht hatte, war sie fort. Wie konnte sie so gut aussehen, wenn sie nie schlief? Sich mit Drogen vollpumpte? Fast jede Nacht Exzesse feierte und tagsüber einen Knochenjob als Brokerin hatte? Mir reichte schon, dass ich nicht schlafen konnte.
    Mir war egal, dass ich Fußstapfen in der unberührten Schneedecke hinterließ. Mir war egal, dass ich Lärm machte, als ich ein Fenster einschlug, um ins Haus zu gelangen. Es schien mich sowieso niemand zu hören. Jedenfalls kam keine Polizei. Ich ging durch das Haus und sah mir jeden Raum an. Ich hoffte, noch etwas mehr zu finden, das meine Erinnerung anstieß. Und ich fand. Geschirr, Besteck, Möbel, Teppiche, Bilder, Bücher, Schallplatten, CDs, Kleidung. Wie konnte mir alles so seltsam vertraut sein? Manches, als gehörte es mir? Manches, als kannte ich es ein Leben lang? Ich fand mehr. Nämlich Antworten. Ich fand sie in Fotoalben auf dem Dachboden. Ein Fotoalbum aus den frühen achtziger Jahren. Zwei kleine Mädchen. Zwillinge. Bei ihren Geburtstagsfeiern. Mit ihren Eltern. Wie sie spielten. Wie sie auf Ponys ritten. Wie sie im Hamburger Hafen auf ein Schiff kletterten. Wie sie ihre Schultüten hielten. Wie sie Urlaub am Strand machten. Wie sie älter wurden und immer noch genau gleich aussahen. Ein zweites Album aus den neunziger Jahren, es ging bis zur Konfirmation der beiden. Kein drittes Album, nur vereinzelte Fotos. Schulzeugnisse. Kopien der Geburtsurkunden. Briefe vom Nachlassgericht. Beleidskarten.
    Als ich ihre Schritte im Haus hörte, wusste ich längst alles. Ich wusste von den Zwillingen Dora und Anna König,

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